Wissenschaftler haben erstmals erfasst, wie viel Wald in Deutschland ohne direkten Einfluss des Menschen sich selbst überlassen wird. Nur 1,9 Prozent der Waldfläche wird dauerhaft nicht forstwirtschaftlich genutzt. Um den Rückgang der biologischen Vielfalt zu stoppen, sollte der Anteil bis 2020 laut der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt der Bundesregierung von November 2007 eigentlich auf fünf Prozent steigen. Das Ziel ist kaum mehr zu erreichen.
In der Studie sind öffentliche und private Waldbesitzer systematisch nach ihren Nutzungsplänen befragt worden. Das Ergebnis: Im Jahr 2020 werden nur 2,3 Prozent der Waldfläche sich selbst überlassen sein. „Die Erhebung der derzeit vorhandenen NWE-Flächen zeigt, dass das 5 %-Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt bis 2020 nicht mehr erreicht werden kann“, schreibt Peter Meyer von der der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt, die das Projekt NWE5 zur Walderfassung zusammen mit der Universität Freiburg und dem Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz in Bühl durchführte. NWE steht für „natürliche Waldentwicklung“.
Auf der politischen Agenda steht das Ziel eigentlich ganz oben: “Die Bundesregierung unterstützt, dass wir fünf Prozent unserer Wälder bis zum Jahre 2020 sich völlig frei entwickeln lassen, das heißt, dass daraus wieder Wildnis wird”, sagte Angela Merkel im Mai anlässlich der Eröffnung des Naturerbezentrums Prora auf Rügen in einer Video-Botschaft. Das Bundesumweltministerium schreibt im Umweltforschungsplan 2012: „Wälder, die dauerhaft nicht forstwirtschaftlich genutzt werden, spielen für den Erhalt und den Schutz der biologischen Vielfalt nicht nur global sondern auch national eine zentrale Rolle.“
An der Bundesregierung kann es aber kaum liegen. Der Bund hat etwa 20 Prozent seiner Waldflächen als Nationales Naturerbe zur Verfügung gestellt, darunter etwa ehemalige Truppenübungsplätze. In den laufenden Koalitionsverhandlungen einigten sich CDU und SPD darauf, die Flächen zum Nationalen Naturerbe um weitere 30.000 Hektar zu erweitern. Das reicht aber nicht: Etwa 30 Prozent Deutschlands sind mit Wald bedeckt, 49 Prozent davon sind in Privatbesitz, 29 Prozent gehören den Ländern, der Rest kommunalen Körperschaften – und nur vier Prozent dem Bund. Fünf Prozent Flächen mit natürlicher Waldentwicklung würde etwa 554.000 Hektar entsprechen, etwas mehr als die doppelte Fläche des Saarlandes.
Rohholzverbraucher wehren sich
Das Thema wird sehr kontrovers diskutiert. So lehnt die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände (AGDW) mit seinem Präsidenten Philipp Freiherr zu Guttenberg weitere Waldstilllegungen ab. Das Argument des bundesweiten Dachverbandes von nach eigenen Angaben zwei Millionen privaten und kommunalen Waldbesitzern: Biodiversität sei auch in den genutzten Wäldern gewährleistet. In die Kerbe schlägt auch die Arbeitsgemeinschaft Rohholzverbraucher (AGR) und die Deutsche Säge- und Holzindustrie: Mehr als 18 Prozent der deutschen Waldfläche dürften nur eingeschränkt genutzt werden, zudem hätte die NWE5-Statistik nicht erfasst, dass viele privaten Waldbesitzer ihre Güter aus ideellen, ökologischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht nutzen würden.
Um was für Summen es geht, macht eine simple Rechnung im NWE5 deutlich: Allein die 1,9 Prozent nicht genutzter Waldflächen haben einen Verkehrswert von 3,9 Milliarden Euro, würde man sie wieder bewirtschaften.
Nicola Uhde, Wald-Expertin beim BUND, widerspricht der Darstellung der Interessenverbände. Sie verweist darauf, dass viele Tier-, Pflanzen- und Pilzarten, die auf die Alters- und Zerfallsphasen der Bäume und eine natürliche Dynamik im Wald angewiesen sind, stark gefährdet seien. Ihr Schutz schließe eine forstliche Nutzung aus.
Die Sorgen der Privatwaldbesitzer kann sie nicht nachvollziehen. „In der Nationalen Biodiversitätsstrategie ist festgelegt, dass ein Zehntel der Fläche der öffentlichen Wälder aufgrund ihrer besonderen Gemeinwohlfunktion dauerhaft ihrer natürlichen Entwicklung zu überlassen sind. Damit kann das 5%-Ziel der Bundesregierung auch ohne Flächen aus dem Privatwald erreicht werden“, so Uhde.
Schutz von Rotbuchenwäldern
Nur wenn die Bundesregierung deutsche Wälder ernsthaft schütze, könne sie international glaubwürdig auftreten und Forderungen stellen. So trage Deutschland – wie Brasilien für den Amazonas-Regenwald – eine besondere Verantwortung für die bedrohten Lebensgemeinschaften der Rotbuchenwälder, weil ein Viertel des natürlichen Verbreitungsgebietes der Rotbuche in Deutschland liege.
Ein weiteres Problem ist, dass sich die Nutzung von Waldholz und sonstigen Holzrohstoffen in Deutschland vervielfacht hat. Nach einer Studie der Universität Hamburg stieg die energetische Nutzung, sprich Holz zum Heizen und für die Stromerzeugung, von 1987 bis 2011 von 14 auf über 70 Millionen Kubikmeter im Jahr an. Ebenso viel wird stofflich genutzt, hier verdoppelte sich die Menge seit 1987.
„Die steigende Nachfrage nach Holz und der damit einhergehende Druck auf die Wälder ist nicht gottgegeben, sondern menschengemacht und damit veränderbar. Der Wald ist in Deutschland jetzt schon an seiner Grenze“, sagt Uhde. Derzeit wandere zu viel Holz direkt in die energetische Nutzung. Mehr als die Hälfte des in Deutschland geernteten Holzes werde direkt verbrannt statt zuerst stofflich genutzt zu werden.
Um die Fläche naturbelassener Wälder zu erhöhen, schlägt Meyer vor, das Instrument von Ökokonten stärker zu nutzen. Dabei schließen Waldbesetzer einen Vertrag, ihre Flächen nicht zu nutzen und erhalten eine öffentliche Kompensationszahlung. Der BUND sieht das skeptisch. „Echte Naturwälder entstehen auch in Deutschland erst nach mehreren hundert Jahren natürlicher Entwicklung. Sprunghafte Anstiege in der Qualität der Artenzusammensetzung zeigen sich frühestens nach 50 Jahren“, sagt Uhde. Ihr Verband fordert ein Bund-Länder-Programm, um mehr natürliche Wälder zu schaffen. Die Politik soll dabei ebenfalls Anreize für private Waldbesitzer schaffen.
Weiterführende Informationen
NWE5-Studie zur Walderfassung
BUND-Forderung zu einem Bund-Länder-Programm für mehr natürliche Wälder
Deutsche Waldeigentümer, Pressemitteilung
Holzrohstoffbilanz Deutschland, Studie Zentrum Holzwirtschaft der Uni Hamburg, Oktober 2012 [pdf, 747 KB]
Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt [pdf, 4,6 MB]