Herr Hoffmann, Kriegsgewalt in der Ukraine, klimabedingte Schäden wie Ernteausfälle und Überflutungen, die Zahl der Hungernden steigt, die der Flüchtenden war noch nie so groß wie heute – die Welt ist vielleicht weiter denn je davon entfernt, ihre existenziellen Probleme zu lösen. Ist es Zeit zu sagen: „Tut uns leid, wir schaffen die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele nicht, mit denen wir die Welt besser machen wollten.“?
Reiner Hoffmann: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Wir leben in einem Krisenjahrzehnt. Die Krisenserie begann schon mit der Finanzkrise 2008. Aber in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Regierungen handeln können. Das sollte Ansporn sein, an den Nachhaltigkeitszielen festzuhalten. Wir können sie erreichen, wenn wir klug und schneller handeln. Davon bin ich fest überzeugt.
Aber viele Regierungen sind derzeit mit akutem Krisenmanagement beschäftigt, und allein die Rüstung verschlingt Milliardenbeträge – woher soll da noch Geld kommen für den Kampf gegen die Armut oder die Klimakrise?
Geld ist im Überfluss vorhanden. Der Global Wealth Report des Versicherungsunternehmens Allianz zeigt, dass das globale Finanzvermögen im Jahr 2022 zum dritten Mal in Folge enorm gestiegen ist. Wir haben kein Finanz-, wir haben ein großes Verteilungsproblem.
Geld ist da?
Reichlich, es ist nur häufig in den falschen Händen oder wird falsch ausgegeben. Wir müssen jetzt in den Klimaschutz investieren, in die Bewältigung von Hunger- und Ernährungskrise. Wenn wir das tun, spart das künftig übrigens viel Geld. Das wird bei der sozial-ökologischen Transformation bisher zu selten mitgedacht. In Europa und in Deutschland können wir das leichter als viele in anderen Regionen und Ländern. Wir sind wir da in einer relativ guten Situation.
In Deutschland ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet.
Das will ich nicht wegdiskutieren. Die Armut ist in Deutschland, in Europa insgesamt viel zu groß. Das passt mir als Gewerkschafter natürlich nicht. Wir müssen deswegen auf allen Ebenen mehr darüber reden, wie wir zu einer gerechteren Verteilung kommen – auch zugunsten der kommenden Generation.
Was muss Deutschland auf der internationalen Ebene sofort anschieben?
Spätestens seit der Pandemie ist doch jedem klar geworden, dass kein Land die derzeitigen Krisen allein bewältigen kann. Es braucht also ein abgestimmtes internationales Vorgehen. Das gilt für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ebenso wie für den Klimaschutz – auch wenn es extrem schwierig ist. Deutschland muss beim Klimaschutz viel stärker mit den europäischen Nachbaren zusammenarbeiten. Wir brauchen eine europäische Strategie, wie wir in Zeiten der Transformation Industrie erhalten. Denn die sorgt immer noch für einen hohen Anteil an der Wertschöpfung und Jobs. Das bedeutet, dass jede gute Klimastrategie die industriellen Arbeitsplätze erhalten muss.
Wie sieht die Strategie genau aus?
Um beispielsweise Windturbinen und Strommasten herzustellen, werden wir nicht auf Stahl verzichten können. Aber der Stahl muss grüner Stahl sein. Und um diesen zu produzieren sind wiederum enorme Mengen erneuerbarer Energien und Wasserstoff nötig, der mit erneuerbaren Energien hergestellt werden muss. Das kriegen wir allein in Deutschland nicht hin. Da brauchen wir eine europäische Zusammenarbeit, auch internationale Partnerschaften. Der Wasserstoff kann beispielsweise in Chile oder auch in Norwegen hergestellt werden und dann bei uns in der grünen Stahlproduktion eingesetzt werden. Das schafft Jobs im Süden, erhält Jobs bei uns und verringert unsere Importabhängigkeiten von einzelnen Ländern. Eine solche Diversifizierung der Lieferketten dürfen wir aber nicht national planen. Es macht wenig Sinn, wenn sich da jeder EU-Mitgliedstaat weiter allein durchwurschtelt. Da brauchen wir europäische Strategien.
Präsident Joe Biden hat mit dem Inflation Reduction Act einen dreistelligen Milliardenbetrag bereitstellt, um grüne Industrien ins Land zu locken. Fürchten Sie die Konkurrenz mit den USA?
Wenn wir klug sind, lassen wir uns nicht auf neue Handelskonflikte ein. Wir können im Gegenteil von Joe Biden lernen, wie man den grünen Umbau der Wirtschaft auch sozial gestaltet. Die amerikanischen Hilfen für Unternehmen sind daran geknüpft, dass es in deren Betrieben Gewerkschaften und Tarifverträge gibt. In Europa diskutieren wir schon lange, aber leider ohne klares Ergebnis, ob öffentliche Aufträge nur an Unternehmen gehen, die Tariflöhne zahlen. Dabei würde eine solche Regel nicht nur dafür sorgen, dass Menschen mehr Geld verdienen. Es nähme ganz sicher auch deren Zustimmung zur sozial-ökologischen Transformation zu. Der Inflation Reduction Act zeigt also, wie die soziale Dimension mitgedacht werden kann.
Aber es entscheiden doch auch die günstigsten Arbeitskosten, wo produziert wird. Darum dominiert China heute den Photovoltaik-Markt.
Dieses Lohnkostenargument der Unternehmen nehme ich durchaus ernst. Aber bei der Energiewende ist das anders. Die erneuerbaren Energien haben ein grünes Label, aber auch einen hohen Preis, weil die gerechte Entlohnung der Menschen bisher insgesamt vernachlässigt worden ist. Das war ein Fehler. Steinkohle, Braunkohle, die fossilen Energien, aus denen wir zu Recht aussteigen, waren immer mit guter Arbeit verknüpft. Die Beschäftigen dort haben in der Regel mehr verdient und waren besser abgesichert als die in den erneuerbaren Industrien. Wenn wir bei den erneuerbaren Energien jetzt Land gewinnen wollen, müssen wir das auch mit ordentlich bezahlten Arbeitsplätzen verbinden. Sonst lässt sich der Ausbau nicht beschleunigen. Dann fehlt es an Menschen, womöglich auch an Material. Und das kommt uns dann noch teurer zu stehen, weil wir der Klimakrise zu wenig entgegensetzen.
Sie wollen mit dem neuen Rat grundsätzlich soziale Aspekte stärken – wie?
Es geht mir nicht nur um ein bisschen mehr Sozialpolitik, sondern um eine stärkere Verzahnung der ökologischen mit der sozialen Debatte. Darum möchte ich, dass der Rat sich beispielsweise auch um Fragen der Qualifikation von Menschen kümmert. Wer eine Wirtschaft will, die dekarbonisiert wird und in Kreisläufen denkt, braucht hochqualifizierte, motivierte Beschäftigte. Die müssen eingebunden werden und ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten müssen gestärkt werden.
Ist nicht schon die Schule entscheidend?
Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, komme über den zweiten Bildungsweg, es hat gedauert, bis ich nach der Berufsausbildung den Weg zur Hochschule gefunden habe…
Sie sind Diplom-Ökonom geworden.
Schule hat mir als Jugendlicher wenig Spaß gemacht. Bildung ist aber die Voraussetzung dafür, dass Menschen den Wandel – und der Wandel wird tiefgreifend werden – meistern. Darum muss man natürlich bei der frühkindlichen Erziehung ansetzen, und zwar bei allen. Und das lebensbegleitende Lernen muss bis im hohen Alter möglich sein. Für ein reiches Land wie Deutschland ist es ein Armutszeugnis, dass die Infrastruktur in Schulen oft so katastrophal ist, dass man seine Kinder lieber nicht dorthin schicken möchte. Da muss endlich ambitioniert investiert werden.
Sind die Unternehmen bereits vorbereitet auf den Wandel?
Einige nehmen wirklich einen Strategiewechsel vor. Sie merken, dass kurzfristiges Profitdenken ihnen langfristig keinen Erfolg mehr beschert. Doch viele haben das noch immer nicht verstanden. Die guten Beispiele, diejenigen, die beweisen, dass es nachhaltiger geht, müssen bekannter werden. Damit am Ende alle mitziehen, müssen allerdings auch die Rahmenbedingungen geändert werden. Das Lieferkettengesetz zeigt, was möglich ist. Das stellt seit Anfang 2023 sicher, dass grundlegende Menschenrechte besser geschützt werden und deutsche Unternehmen, die Rohstoffe, Komponenten oder Produkte von ausländischen Zulieferern beziehen, genau hinsehen, wie auch dort gearbeitet wird.
Sie sind für das Bundesentwicklungsministerium „SDG-Botschafter für gute Arbeit weltweit“ – welche Lehren ziehen Sie bisher daraus?
Die Zeiten der karitativen Entwicklungspolitik sind definitiv vorbei, stattdessen müssen wir Menschen befähigen aus der Schattenwirtschaft, aus dem informellen Sektor herauszukommen. Auch im globalen Süden müssen soziale Sicherungssysteme aufgebaut, für Frauen Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden. In Namibia baut Deutschland ein Projekt auf zur Produktion von grünem Strom, nicht um den zuerst in den globalen Norden zu exportieren, sondern damit sich vor Ort Industrie ansiedelt. Am Ende kann dort eine Wasserveredlungswirtschaft entstehen, von der wir auch durch Importe von synthetischen Kraftstoffen oder grünem Ammoniak profitieren. Wir dürfen den afrikanischen Kontinent aber nicht länger nur als Lieferanten von Rohstoffen verstehen.
Warum machen Sie das eigentlich alles?
Ich habe Spaß an der Arbeit und als Gewerkschafter schon immer unterschiedliche Gruppen zusammengebracht, jetzt will ich Brücken bauen in eine gute Zukunft und Menschen dabei mitnehmen.
Viele wollen aber zum Alten zurück.
Die kann ich gar nicht verstehen. Wer an dem Alten festhält, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Dass sich Menschen Sorgen machen, das verstehe ich schon. Ihnen müssen wir Perspektiven bieten, damit sie keine Angst vor der Veränderung bekommen, sondern sie interessant finden und darin Chancen sehen.
Was für Chancen?
Die Beschäftigten bei Thyssen Krupp in Duisburg zum Beispiel sind alle wild entschlossen, den Weg hin zur grünen Stahlproduktion gemeinsam zu schaffen. Ihnen ist klar, dass es nicht bleiben kann, wie es ist – und sie setzen sich an die Spitze. Ein anderes Beispiel: Menschen, die in Unternehmen arbeiten, die Betriebsräte haben und ordentliche Tarifverträge, sind weniger anfällig für Rechtsnationalisten. Das haben wir als Gewerkschaften genau analysiert.
Wieso kommen Populisten da weniger an?
Die AfD und andere zeigen ja keine Alternativen auf, und Lösungen haben sie schon gar nicht im Angebot. Wenn Beschäftigte weniger Unsicherheit empfinden, sind sie für diese Rhetorik weniger anfällig. Entscheidend ist, dass der sozial-ökologische Umbau zu einem Gewinnerthema wird, wer mitmacht ist vorn.
Verlierer wird es trotzdem geben.
Bei technologischen Innovationen gibt es immer Arbeitsplatzverluste. Das ist nichts Neues, das war auch in den vergangenen Jahrzehnten schon so. Trotzdem haben wir in Deutschland die höchste Erwerbsquote seit langem. In der Automobilindustrie werden durch den Umstieg von Verbrennern auf E-Autos laut einer Fraunhofer-Studie bis zu 250.000 Jobs verloren gehen. Wenn wir das wissen, dann ist doch die Aufgabe, neue Arbeitsfelder zu identifizieren und die Leute dafür zu qualifizieren.
Die Pflege, wo Leute gebraucht werden, ist aber zum Beispiel nicht für jeden etwas. Das muss doch auch passen?
Natürlich werden Daimler-Mitarbeitenden nicht morgen zu Pflegekräften weitergebildet sein. Man muss das in jedem Fall aber frühzeitig angehen und neue Perspektiven aufzeigen. Zugleich entstehen doch gerade Tausende neue Jobs in vielen Branchen, die wir beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele brauchen. Das reicht von der energetischen Sanierung bis zur Batterieproduktion. Wir müssen dafür sorgen, dass das gute Jobs werden, dann fällt auch der Wechsel von Daimler zur Solarindustrie leichter.
Wie lebt es sich 2030?
Das ist in sieben Jahren, da haben wir die Klimaziele für 2030 weitestgehend erreicht, der Krieg in der Ukraine ist Gottseidank dann Vergangenheit, wir haben gezeigt, dass Veränderung nicht Verzicht bedeutet, sondern auch ein Gewinn an Lebensqualität bedeuten kann und wird.
Zur Person:
Reiner Hoffmann, geboren 1955 in Wuppertal, sein Vater war Maurer, seine Mutter arbeitete als Reinigungskraft, Diplom-Ökonom, SPD-Mitglied, war von 2014 bis 2022 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).
Seit 2020 bereits ist er Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der die EU bei Gesetzesvorhaben berät. Seit dem 15. Februar 2023 ist er Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung.
Interview: Hanna Gersmann