Warum ist es so wichtig, junge Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen?
Wendelin Haag: Weil junge Menschen von politischen Entscheidungen am längsten betroffen sind, wesentlich länger als alle Generationen, die ihnen vorangehen. Und weil Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene jeweils Expert*innen für ihre eigene Lebenswelt sind. Daraus ergibt sich für eine zukunftsfähige Politik die Notwendigkeit, die Bedarfe und Forderungen von jungen Menschen aufzunehmen und umzusetzen.
Ihnen geht es aber vor allem auch darum, dass eine solche Beteiligung nicht nur am Rande – sozusagen „am Katzentisch“ – passiert. Wie funktioniert Beteiligung auf Augenhöhe?
Da kann ich gleich eine Reihe von Punkten nennen: Zuerst setzen wir uns für eine deutliche Senkung des Wahlalters ein – von den Bundestagswahlen über die Europawahlen bis hin zu den Landtags- und Kommunalwahlen. Das ist aber nur ein erster Schritt.
Was muss weiter geschehen?
Für meinen zweiten Punkt ist der Prozess, den wir gerade mit dem RNE rund um das Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit gestartet haben, ein gutes Beispiel: Es ist wichtig, die demokratisch gewählten Vertreter*innen der Selbstorganisationen junger Menschen – wie das Jugendverbände sind – strukturell zu stärken, zu fördern und dann eben auch zu beteiligen. Darum geht es im Prozess. Es gibt weitere Beispiele, bei denen wir schon auf einem guten Weg sind. Nehmen Sie die Zukunftskommission Landwirtschaft, in der die Bundesvorsitzende der Deutschen Landjugend und ein Mitglied des Bundesvorstands des Jugendumweltverbandes BUNDjugend vertreten waren. Die Beteiligung war ein Fortschritt und ein Gewinn für die Kommission. In der „Kohlekommission“ dagegen hatte die Bundesregierung zuvor noch kein Interesse an der Perspektive junger Menschen gezeigt. Politik und Verwaltung sollten auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zugehen und mit ihnen zusammen Lösungsmöglichkeiten für wirksame Beteiligungsprozesse erarbeiten.
Wann ist eine solche Beteiligung auch fruchtbar?
Wenn es tatsächlich etwas zu entscheiden gibt und durch die Beteiligung eine Wirkung erzielt wird. Das ist beides zentral. Und wenn Beteiligung von Anfang bis Ende mit jungen Menschen geplant und umgesetzt wird. Neben wirksamen Beteiligungsformaten sehen wir aber weitere Bedarfe, um die Interessen junger Menschen angemessen in der Politik zu berücksichtigen. Zum Beispiel einen Jugend-Check als Instrument der Gesetzesfolgenabschätzung, bezogen auf die spezifischen Auswirkungen auf die Lebenswelt junger Menschen. Es geht darum, die Frage zu beantworten, wie wirkt sich ein Gesetz mittel- und langfristig speziell für junge Menschen aus. Den Jugend-Check gibt es schon, aber nur als befristetes Projekt und unverbindlich. Ministerien können selber entscheiden, ob sie einen solchen Check machen wollen oder nicht…
…also zugespitzt gesagt: Das Bundesfamilienministerium macht das eher als das Bundesfinanzministerium?
Genau. Wir fordern aber, dass es verbindlich für alle Gesetze geschehen muss. Und da kommen wir zu unserem letzten Punkt: Gute Jugendpolitik ist für uns ressortübergreifend. Nehmen wir das Thema Nachhaltigkeit: Da richten sich die Interessen von Kindern und Jugendlichen ja nicht an ein, zwei Ministerien, auf denen Umwelt oder Jugend draufsteht – sondern Nachhaltige Entwicklung muss durch alle Ministerien vorangebracht werden. Deswegen brauchen wir in allen Politikbereichen gute, wirksame, strukturell verankerte Beteiligung von Jugendlichen.
Wie kann das praktisch umgesetzt werden?
Ganz praktisch sollte es regelmäßigen Austausch zwischen den Entscheider*innen und Organisationen geben, in denen sich Kinder und Jugendliche demokratisch organisieren.
Aber es darf nicht dabei bleiben, unsere Meinung nur anzuhören, sie muss auch tatsächlich berücksichtigt werden und in die folgenden Prozesse einfließen. Junge Menschen verstehen durchaus, dass ihre Anliegen nicht immer zu 100 Prozent umgesetzt werden können – wir wissen, wie Demokratie funktioniert. Aber wir wollen, dass dieser Prozess transparent gestaltet wird.
Die BUNDjugend und die Deutsche Landjugend, die Sie vorhin nannten, sind beide Mitgliedsverbände im Bundesjugendring. Diese beiden Organisationen sind sicher oft nicht derselben Meinung. Wie gehen Sie damit um? Wie kommt man ins Gespräch, ohne sich gegenseitig auszubremsen?
Innerhalb des Bundesjugendrings gibt es ein Parlament der Jugend, eine jährliche Vollversammlung, in der die grundlegenden Positionen festgelegt werden. Darin sind alle 51 Mitgliedsorganisationen vertreten. Die Landesjugendringe und die Bundesorganisationen der Jugendverbände: der Umweltverbände, der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, der Verbände, die im helfenden Kontext unterwegs sind, zum Beispiel des Technischen Hilfswerks oder des Roten Kreuzes, dann kulturelle Jugendverbände, etwa die Chor- und Bläserjugend, und schließlich die konfessionellen Jugendverbände und die Migrant*innenjugend-Selbstorganisationen wie die Alevitische Jugend. Insgesamt sind sechs Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in den Jugendverbänden engagiert. Und auf der Vollversammlung wird in einem demokratischen Verfahren beraten, ausgehandelt und am Ende beschlossen, was die gemeinsame Position all dieser Verbände ist. Die Stimmrechte orientieren sich dabei an der Mitgliederzahl. Und die Ergebnisse dieser Aushandlungen tragen wir dann als Bundesjugendring im Namen aller jungen Menschen in die Politik. Da braucht es Kooperation und Aushandlung, um Positionen mehrheitsfähig zu machen, und so wird dann oft bis in die Nacht hinein gerungen und anschließend auch gefeiert. Ich denke da an eine meiner ersten Vollversammlungen. 2018 war ich noch Delegierter meines Heimatverbandes, der Naturfreundejugend, und wir haben bis nach Mitternacht mit den Vertreter*innen der Gewerkschaftsjugenden in der Klimapolitik darum gerungen, die Notwendigkeiten eines ökologischen Wandels mit den Interessen der Arbeitnehmer*innen zu verbinden. Die am nächsten Tag beschlossene Position zur sozial-ökologischen Position hilft uns als Arbeitsgemeinschaft bis heute.
Einen Konsens oder zumindest einen guten Kompromiss zu finden: Manchmal kann man den Eindruck bekommen, dass das gesellschaftlich immer schwieriger wird. Was kann man sich bei Ihnen abschauen?
Das ist etwas, was unsere Mitglieder in ihren Verbänden von der Pike auf lernen, ob in der Gruppenstunde der Katholischen Jugend, bei der Ferienfreizeit der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken oder wenn es darum geht, einen Wettbewerb der Jugendfeuerwehren zu organisieren: sich miteinander zu verständigen und abzustimmen. Das sind Fähigkeiten, die wichtig für die Demokratie sind und die in solchen Organisationen viel stärker vermittelt werden als durch die klassischen Institutionen der formalen Bildung. Weil in Jugendverbänden Demokratie erfahren, erlernt und gelebt wird.
Da liegt die Frage fast auf der Hand, welche Rolle die Jugendverbandsarbeit für die nachhaltige Transformation spielen kann. Denn da geht es ja auch darum, Koalitionen auszuhandeln und scheinbar Unvereinbares unter einen Hut zu bekommen…
Das ist ja ein Thema, das schönerweise medial und politisch jungen Menschen zugeschrieben wird. Das ist kein Zufall, weil eben die junge Generation von heute diejenige ist, die, genau wie nachfolgende Generationen, am längsten die krassen Auswirkungen der Erderhitzung zu spüren bekommen wird. Gleichzeitig sind wir eine der letzten Generationen, die durch ihr politisches Handeln die Folgen begrenzen oder bremsen kann. So haben wir noch eine andere Klarsicht oder – wenn man so will – Radikalität dabei zu erkennen, welches die wirklichen Prioritäten und die wirklichen Interessen der Menschheit derzeit sein müssen. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass es keine wichtigere und positivere Erzählung gibt als die Rolle älterer Menschen, die mithelfen wollen, den Planeten für ihre Kinder und Enkelkinder zu erhalten.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Rolle der Jugendverbände im Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit?
Wenn ich an das Gemeinschaftswerk denke, habe ich dieses Bild von einem Netz im Kopf. Wir werden als Bundesjugendring einer dieser Kreuzungspunkte im Netz sein. Ein Punkt, an dem sich junge Menschen mit Verbänden, Vereinen, Gewerkschaften, Unternehmen vernetzen. Wir hoffen, dass daraus Austausch – auch über Unterschiede und Interessenkollisionen – entsteht. Und ich verspreche mir darüber hinaus handfeste gemeinsame Initiativen – Ideen über die Grenzen der jeweiligen Systeme und natürlich auch über die Generationen hinweg. Gleichzeitig kann das Gemeinschaftswerk eine Plattform darstellen, auf der die Vielfalt der existierenden Projekte und Initiativen sichtbar wird. Wir verstehen das Gemeinschaftswerk als eine Möglichkeit für uns als junge Bürger*innen, unseren Beitrag zu leisten – ohne dadurch der Politik den Druck zu nehmen, selbst dort zu handeln, wo es notwendig ist.
Die Jugendverbände beteiligen sich in diesem Jahr auch an der Jahreskonferenz des Nachhaltigkeitsrates.
Das ist das andere große Projekt, neben dem Gemeinschaftswerk, das wir mit dem Rat zusammen angegangen sind. Ratsmitglieder sind schon vor zwei Jahren mit dem Wunsch auf uns zugekommen, dass sich junge Menschen stärker an der Jahreskonferenz beteiligen. Es folgte ein sehr gutes Kooperationsgespräch mit dem Ratsvorsitzenden, Herrn Dr. Schnappauf. Die Folge davon ist, dass wir auf der Konferenz unter anderem ein eigenes Themenforum gestalten werden, in dem die unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Jugendverbände artikuliert werden. Und wir werden in diesem und im kommenden Jahr eine eigene Jugendkonferenz einige Wochen vor der RNE-Jahreskonferenz organisieren, in der junge Menschen ihre Nachhaltigkeits-Positionen beraten, erarbeiten, zusammenfassen, um sie dann in die Jahreskonferenz einzubringen – auf der auch der Bundeskanzler zugegen sein wird. Wenn alles klappt, nimmt Olaf Scholz die Interessen und Anliegen der jungen Menschen ernst und berücksichtigt sie in seiner Politik. So stellen wir uns wirksame Beteiligung vor.