Thüringen hat keine Großkraftwerke, viel Natur und eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie. Um die allerdings ist es derzeit eher schlecht bestellt. Ron Hoffmann, Sprecher des im Dezember berufenen Nachhaltigkeitsbeirates und Vorsitzender des BUND Thüringen, ruft die seit Ende 2014 amtierende Landesregierung dazu auf, die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele endlich umzusetzen.
Herr Hoffmann, Thüringen hat zum dritten Mal einen Nachhaltigkeitsbeirat berufen. Wie wollen Sie der Landesregierung aufs Zahnfleisch fühlen?
Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie, die ist von der alten Landesregierung auf den Weg gebracht worden. In dieser sind Ziele bis 2020 definiert mit entsprechenden Indikatoren. Die jetzige Landesregierung erbt ein großes Umsetzungsdefizit, viele Werte entwickeln sich negativ.
Das heißt, es geht in Sachen Nachhaltigkeit Berg ab?
Ja, zum Beispiel beim Flächenverbrauch. Da wollten wir auf eine ausgeglichene Bilanz zwischen Renaturierung und Verbrauch bis 2020 kommen. Allerdings nimmt der Flächenverbrauch seit Jahren zu. In vielen anderen Bereichen merkt man: Die Landesregierung hatte zwar eine Strategie, hat aber ihr politisches Handeln nicht danach ausgerichtet. Im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag von Ende 2014 steht aber, dass alle Ministerien einen Aktionsplan entwickeln sollen, wie sie die Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen. Das war auch unser Erfolg als Beirat.
Wer überwacht das?
Wir hoffen, dass wir als Beirat einbezogen werden. Bisher sehen die Signale aus der Landesregierung gut aus. Ein großes Problem ist aber: Eigentlich hätte bis 2015 eine Evaluation der bisherigen Nachhaltigkeitsstrategie von 2011 erfolgen sollen, da ist nichts passiert. Das ist unsere erste Aufgabe, um dann die Strategie fortschreiben zu können.
Haben denn die Globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen vom vergangenen Herbst das Thema in Thüringen beflügelt?
Außer in den Fachgremien merkt man nicht viel davon. Aber auf Bundesebene passiert ja etwas, da soll die nationale Nachhaltigkeitsstrategie 2016 überarbeitet werden. Nach der Evaluation in Thüringen wollen wir auch die Strategie des Landes überarbeiten und uns natürlich an den nationalen Vorgaben anlehnen. Unser Ziel ist, dass sich alle Länder daran orientieren, dann können wir ein Ranking zwischen den Ländern erstellen.
Auf Bundesebene gibt es eine Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzen. Wie sieht es in Thüringen aus?
Das soll kommen, das ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Da hat die Landesregierung auch ein offenes Ohr. Allerdings hinken wir leicht hinterher, weil der Beirat ja nicht wie geplant im März, sondern erst im Dezember 2015 berufen worden ist.
Welche Note geben Sie denn der Landesregierung bisher?
Im Koalitionsvertrag ist Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema und wird an 13 zentralen Stellen erwähnt. Die Regierung hat sich auch zu den Nachhaltigkeitszielen bekannt. Die Umsetzung ist aber noch nicht weit gediehen. Wir haben als Beirat eine eher schlechte Finanzausstattung, um eine Evaluation und daraus resultierend eine Fortschreibung der Strategie zu initiieren. Bei der Entwicklung der ersten Strategie 2011 gab es eine Bürgerbeteiligung mit zahlreichen Workshops und Online-Befragungen, das würden wir gerne wieder machen. Aber wir als Ehrenamtliche verfügen kaum über entsprechende Ressourcen. Momentan ist das Thema Nachhaltigkeit im Umweltministerium angesiedelt, was die Durchsetzung gegenüber anderen Häusern nicht einfach macht. Wir fordern schon seit Jahren, eine Stabsstelle in der Staatskanzlei einzurichten. Im Bund ist das Thema Nachhaltigkeit auch im Kanzleramt gebündelt.
Sie wollen einen Schwerpunkt auf Bildung für nachhaltige Entwicklung setzen – was bedeutet das angesichts der Flüchtenden, die in Thüringen ankommen?
Wir sehen Bildung für Nachhaltige Entwicklung als Aufgabe quer über alle Bildungsbereiche hinweg, vor allem in der formalen und formellen Bildung von der Kita, über die Schulen und die berufliche Ausbildung bis in die Hochschulen und die berufliche Weiterbildung. In Bezug auf die Flüchtlinge müssen wir sicher nachjustieren.
Was Geld kostet. Nun läuft der Solidarpakt II 2019 aus. Dann fehlen im Landeshaushalt Thüringens eine Milliarde Euro im Vergleich zu 2011. Wie kann man das kompensieren?
Ich bin kein Verfechter der Schuldenbremse. Wenn wir Investitionen mit wirklich nachhaltiger Ausrichtung machen, sollten wir uns im Zweifel auch verschulden. Das gilt besonders für die Bildung. Wenn wir Flüchtlinge integrieren wollen, kostet das in allen Bildungsbereichen zunächst einiges. Aber wenn wir das jetzt angehen, haben wir am Ende eine Menge Neubürger, die auch Arbeit finden und Steuern zahlen. Das ist nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch sinnvoll.
Eine der größten Herausforderungen Thüringens ist der Bevölkerungsrückgang: 2030 werden 17,5 Prozent weniger Menschen bei Ihnen leben als 2010. Was kann die Landesregierung dagegen tun?
Da muss man auf kommunaler Ebene viel machen. Und wir müssen über Dinge reden, die sich nicht schön anhören. Wir werden Ortschaften haben, in denen Wasserversorgung und anderes für einzelne Bürger sehr teuer wird, weil sie nur noch dünn besiedelt sind. Öffentlicher Nahverkehr lohnt sich dann auch nicht mehr. Wir werden uns fragen müssen, ob Kindertagesstätten in einigen Orten noch Sinn macht. Das geht so weit, dass wir einzelne Dörfer vielleicht aufgeben müssen.
2011 nahm sich Thüringen vor, Spitzenreiter in der Energiewende zu werden. Bisher haben sie es nur auf den vierten Platz geschafft.
Thüringen befindet sich in einer schweren Position. Wir waren nie vom Thema Energieversorgung betroffen. Bei uns gab es nie Kohleabbau, keine Kohlekraftwerke, keine Atomkraftwerke. Bürger, die auf einmal Energieerzeugungsanlagen sehen, haben keinen Vergleich. Und natürlich ist das Thema auch parteipolitisch hinterlegt. Windkraftgegner kommen eher aus Reihen der CDU, Befürworter eher von Rot-Grün.
Was macht man da?
Man kann versuchen, die Debatte von der politischen Einfärbung zu lösen. Viele reagieren sehr sensibel, wenn es um Windkraft im Wald geht. Aber die Frage ist doch, wie hoch ist der Eingriff in die Natur? Müssen Schneisen gebaut werden? Wird ein alter Buchenwald bebaut oder eine Fichtenplantage? Eine alte Telekom-Anlage mit Funkturm, der ohnehin erschlossen ist? Man muss die Emotion rausnehmen.
Langfristig gesehen: Wo muss Thüringen hin?
Ich wäre froh, wenn wir die Ziele bis 2020 annähernd erreichen. In Sachen erneuerbare Energien schaffen wir das, beim Flächenverbrauch wird es schwer. Wir müssen überlegen, wie man der Natur Flächen zurückgeben kann. Oder wie man Investitionszuschüsse an bestimmte Kriterien koppelt: Wer Fläche effektiv nutzt, bekommt mehr. Oder man verpflichtet Unternehmen zum Rückbau, falls sie die Zelte abbrechen.
Das klingt, als sei Nachhaltigkeit als Netzwerkaufgabe noch nicht durchgedrungen ist.
Das kann man sagen. Ich will aber nicht den Stab über der neuen Landesregierung brechen. Jetzt haben wir ein Jahr Rot-Rot-Grün. Die Landesregierung muss jetzt beweisen, dass sie Nachhaltigkeit nicht nur nett formuliert.
Das Interview führte Ingo Arzt.