Biodiversität im Agrarsektor: wenig Anreiz, etwas zu ändern?

Der Landwirtschaft kommt beim Kampf gegen den Biodiversitätsverlust eine zentrale Rolle zu. Viele Landwirt*innen arbeiten bereits an Ideen. Doch die Aufgabe kann die Agrarbranche nicht alleine stemmen.

„Wir müssen uns klar sein: Jedes Anbausystem, das der menschlichen Ernährung dient, ist ein fataler Eingriff in die Natur“, sagt Hubertus Paetow, Präsident der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) und selbst Landwirt. Geht es um den Erhalt der Biodiversität oder auch nur darum, ihren beständigen Schwund zu stoppen, gerät also schnell die Landwirtschaft in den Fokus.

Auch Unternehmen oder Städte und jede und jeder Einzelne haben einen Einfluss auf die genetische Vielfalt innerhalb der Arten und in den Lebensräumen, genauso wie auf die Vielfalt der Ökosysteme und ihre Funktionen. Trotz der Relevanz von Biodiversität für unser tägliches Leben, fehlt es noch an Bewusstsein dafür. Auch wegen der Komplexität der Herausforderung lenkt der RNE dieses Jahr mit dem Schwerpunkt Biodiversität im Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit seinen Fokus auf dieses Thema. So ist die Landwirtschaft ein großer Verursacher von Biodiversitätsverlust, gleichzeitig hängt ihre Leistungsfähigkeit direkt am Erhalt der Artenvielfalt. Fehlt es an Insekten, die Pflanzen bestäuben, können auch die Landwirt*innen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen – jedenfalls sollte man das meinen. Nur stimmt das in der Praxis nicht: „Die Betroffenheit landwirtschaftlicher Systeme durch Biodiversitätsverlust ist nicht so spürbar, wie es für die Kommunikation des Themas wünschenswert wäre“, sagt DLG-Präsident Paetow. „Und solange wir die Auswirkung nicht spüren, besteht leider wenig Anreiz für die Branche, etwas zu verändern.“

Obwohl das Problem in der Praxis also noch nicht deutlich zu bemerken ist, verändert sich langsam etwas. Leider sind die Lösungen oft alles andere als simpel: „Es ist ein Fehler, zu glauben, dass man nur weniger Pflanzenschutzmittel einsetzen muss und schon fördert man die Artenvielfalt“, sagt Paetow. „Das stimmt nicht.“ Vielmehr gehe es um ein Zusammenspiel aller Faktoren – von den Fruchtarten über die Bestandsdichte bis hin zur Bodenbearbeitung. „Wir sind bisher nicht gut darin zu prognostizieren, welche Änderung welchen Einfluss hat.“ Natürlich: Wenn man eine Ackerfläche komplett stilllege und in Grünland umwandele, dann fördere man die Biodiversität. Aber welche Faktoren sich wie auswirken, wenn man weiterhin Lebensmittel auf dieser Fläche produziert – das finden Landwirt*innen und Wissenschaftler*innen erst nach und nach in vielen Pilotprojekten heraus.

Mit weniger Intensität das gleiche erwirtschaften

Einer von denen, die an solchen Lösungen arbeiten, ist Jan Wreesmann, konventioneller Landwirt aus Niedersachsen. Er ist sich bewusst: „Allein dadurch, dass wir Fläche bewirtschaften und darauf Lebensmittel produzieren, nehmen wir Einfluss auf die Artenvielfalt“, sagt Jan Wreesmann. Er bemängelt, die Kritik an der Landwirtschaft sei oft viel zu undifferenziert. Die konventionelle Landwirtschaft habe sich weiterentwickelt und viel vom Ökolandbau abgeschaut, doch diese Fortschritte würden von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.

Wreesmann bewirtschaftet das Gut Altenoythe, etwa 30 Kilometer von Oldenburg entfernt. Seine Frau und er arbeiten seit 2013 auf dem Hof, den die Familie in der fünften Generation führt. Die Wreesmanns betreiben Obst- und Ackerbau, auch eine Käserei gibt es auf Gut Altenoythe. Wreesmann beschäftigt die Frage, wie sich mit weniger Intensität das gleiche erwirtschaften lässt. Auch deswegen engagiert er sich im Netzwerk Leitbetriebe Pflanzenbau, einem Leuchtturmprojekt im Rahmen der Ackerbaustrategie 2035 des Landwirtschaftsministeriums (BMEL). Der im Oktober 2021 gestartete Zusammenschluss aus landwirtschaftlichen Betrieben soll dazu beitragen, modernen biodiversitäts- und umweltschonenden Pflanzenbau für die Öffentlichkeit erlebbar zu machen. Aktuell engagieren sich hier fast 100 konventionell und ökologisch wirtschaftende Betriebe.

Solche Initiativen sind wichtig, um Wissen auszutauschen und neue Ideen zu entwickeln. Denn heute laufen die Überlegungen oft auf ein Nullsummenspiel heraus, sagt Landwirt Wreesmann: „Wenn ich weniger Pflanzenschutzmittel einsetze und weniger ernte, dann muss jemand anderes diesen Ertrag erwirtschaften – also muss der dann intensiver arbeiten.“

Maßgeschneiderte Konzepte für unterschiedliche Regionen

Also gehe es um Lösungen, die den Ertrag möglichst wenig schmälern. So hat Wreesmanns Vater schon vor 30 Jahren begonnen, den Boden pfluglos zu bewirtschaften. Seine Motivation damals: Diesel sparen. Heute hat Sohn Jan beispielsweise seine Äcker in Streifen eingeteilt und baut alle 24 Meter eine andere Kultur an. Solche Experimente treibe er aus eigener Motivation voran: „Ich will herausfinden, ob ich das umsetzen kann und, ob es was bringt“, sagt er. „Das ist mir lieber als zu warten, bis ich fachfremden Forderungen hinterherlaufen muss.“

Laut Wreesmann könnte es sinnvoll sein, auf regionaler Ebene maßgeschneiderte Konzepte zu entwickeln. „Es wäre doch eine Idee, die vielen Subventionen, die wir mit großem bürokratischen Aufwand bekommen, in regionale Verantwortung zu delegieren und damit vor Ort für die jeweiligen Anforderungen sinnvolle Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen.“

Auch Landwirt Dominik Bellaire plädiert für regional angepasste Maßnahmen, um dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken. Vor allem aber hofft er auf die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet. Der Familienbetrieb Bellaire liegt in einer kleinstrukturierten Gegend, in Neupotz in der Pfalz, ganz in der Nähe zur baden-württembergischen Grenze.

Dominik Bellaire hat in seine Flächen zum Beispiel so genannte Lerchenfenster integriert – „Start- und Landebahnen für Vögel“ nennt er die. Ihn ärgert es allerdings, dass solche Maßnahmen nicht anerkannt und gefördert werden. Oft, sagt Bellaire, stehe die Bürokratie den durchaus vorhandenen guten Ideen im Weg: „Wenn die Flächenkontrolle feststellt, dass eine Kultur nicht dort steht, wo sie stehen sollte, weil ich zum Beispiel ein solches Lerchenfenster angelegt habe, dann wird mir diese Fläche aberkannt, und ich muss die Förderung zurückzahlen.“

Bürokratie versus Innovation

Der Landwirt zählt weitere Beispiele auf: „Blühstreifen müssen genau verortet und exakt auf dem festgelegten Punkt angelegt sein. Sonst ist das Subventionsbetrug.“ Und dann sei da noch das Problem mit den mehrjährigen Blühstreifen: „Blühstreifen machen dann einen echten Unterschied für die Tiere, wenn sie über mehr als ein Jahr angelegt sind“, erklärt Bellaire. „Aber ein mehrjähriger Blühstreifen sieht halt auch mal schlimm aus.“ Wenn er abgeblüht ist, lässt Bellaire die abgestorbenen Pflanzen stehen: „Die sind für die Bodeninsekten wichtig oder für kleine Tiere wie Hasen.“ Das Problem: Sowas ist eigentlich verboten. Laut Auflagen muss Bellaire mindestens einmal im Jahr seine Flächen bearbeiten. Hält er sich nicht dran, muss er Strafe zahlen. Abhilfe schafft eine Ausnahmegenehmigung – doch die muss jedes Jahr neu beantragt werden.

Unterstützung findet Bellaire in technischen Innovationen. So kann er mit Hilfe einer Applikationskarte metergenau eine Schutzzone anlegen, auf der kein Dünger ausgebracht wird. Das geht, weil die Dünge-Spritze mit einem GPS-Empfänger ausgestattet ist. Dank digitaler Unterstützung kann er außerdem Hochertragszonen identifizieren, um dort Anbau zu betreiben und auf schlechteren Flächen Maßnahmen für die Artenvielfalt durchzuführen. Auch KI-gestützte Prognosemodelle nutzt Bellaire bereits seit vier Jahren mit guten Ergebnissen: „Die analysieren zum Beispiel Wetter- und Niederschlagsdaten und können mir dann ganz genau sagen, wann ich Pflanzenschutzmittel einsetzen muss, um den Weizen vor Infektionen zu schützen.“ Das sorgt dafür, dass er weniger Herbizide einsetzen muss.

Biodiversität ist ein Gut ohne Preis

„Diese Technik kann jeder anwenden“, sagt Bellaire. Die Landwirt*innen in seiner Region unterstützen sich gegenseitig dabei, sich mit den Neuerungen vertraut zu machen. Bei Veranstaltungen im Rahmen der vom BMEL geförderten Demonstrationsbetriebe Integrierter Pflanzenbau testen er und andere Landwirt*innen regelmäßig technische Innovationen aus: „Man will sowas ja mal in der Hand gehabt und ausprobiert haben, bevor man so viel Geld dafür ausgibt“, sagt er. Denn am Ende muss es sich für den Landwirt eben rechnen, damit er weiter seine Arbeit machen kann. Das ist es auch, was Dominik Bellaire motiviert: „Mir geht es um die Zukunft“, sagt er. „Ich will, dass meine Kinder auch noch Landwirtschaft hier in der Pfalz betreiben.“

Deswegen ist laut DLG-Präsident Hubertus Paetow wichtig zu klären, wer die Kosten für Biodiversitätsmaßnahmen trägt. Denn ob Landwirt*innen Flächen ganz aus der Produktion herausnehmen oder ob sie produktionsintegrierte Maßnahmen umsetzen: Praktisch immer wirke sich das auf die Ernte aus, sagt er. Und diesen Nachteil tragen die Landwirt*innen bisher stets alleine. Biodiversität sei ein Gut, das keinen Preis habe: „Es wird nicht gegen Geld getauscht“, sagt das RNE-Mitglied. „Wäre es anders, würde sich das Problem von alleine lösen.“

„Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Paetow. „Gerade weil die Landwirtschaft selbst keine intrinsische Motivation hat, etwas zu ändern, muss die Politik klug eingreifen.” Aus Sicht des DLG-Präsidenten gibt es zwei Möglichkeiten: „Entweder der Staat macht Vorgaben und Vorschriften, wie wir das als Gesellschaft künftig entgelten“, sagt er. „Oder wir eröffnen einen Markt für Biodiversitätsleistungen – ähnlich zum Emissionsrechtehandel, bei dem wir Luftverschmutzung handeln.“ Für die Landwirtschaft sei der ordnungsrechtliche Eingriff der bequemere Weg: „Anstrengender wäre es, wenn wir als Gesellschaft ein Budget für den Biodiversitätserhalt bereitstellen und das outcome-orientiert in die Branche geben“, sagt Paetow. Aber für die Biodiversität wäre ihm zufolge die marktwirtschaftliche Variante besser, weil man dann darauf achten müsse, dass jeder eingesetzte Euro auch tatsächlich einen Unterschied macht. In beiden Fällen würde man der Lösung einen Schritt näherkommen, Biodiversität gesamtgesellschaftlich in Wert zu setzen.

 

Biodiversität im Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe des Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit, in dem Biodiversität als Fokusthema 2024 ausgerufen wurde. Denn neben der Klimakrise ist der dramatische Rückgang an biologischer Vielfalt die existentielle Bedrohung unserer Zeit. Biodiversität ist die Grundlage für unser Leben auf dieser Erde. Ob in der Stadtplanung, am Bau, in den Lieferketten von Unternehmen, in unserem Konsumverhalten, in Landwirtschaft und Landnutzung oder bei der Bekämpfung der Klimakrise – überall spielt biologische Vielfalt eine entscheidende Rolle. Mehr Informationen, Angebote und Materialien zum Thema gibt es hier.