Frau Hasselfeldt, trotz der weltweiten Pandemie hat sich das deutsche Gesundheitssystem dank der schnellen Krisenreaktion bisher keiner ernsthaften Belastungsprobe stellen müssen. Aber bei aller Dankbarkeit wurden immer wieder Stimmen laut, die den zunehmenden Kosten- und Privatisierungsdruck im Gesundheitssystem problematisierten. Ein guter Zeitpunkt für Veränderungen?
Gerda Hasselfeldt: Wir haben gesehen, wie wichtig ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem – mit leistungsfähigen Gesundheitsämtern, ausreichend Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten auch in der Fläche – für eine nachhaltige Daseinsvorsorge ist. Dieser sensible Bereich darf nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen werden. Positiv in dieser Krise war auch die Welle der Solidarität und des bürgerschaftlichen Engagements, mit der sich die Bürgerinnen und Bürger gegenseitig geholfen haben. Ein Ziel muss es sein, dieses Engagement in Zukunft in den bewährten zivilgesellschaftlichen und gemeinwohlorientierten Strukturen, etwa von Wohlfahrtsverbänden und Hilfsorganisationen, zu sichern. Gleichzeitig sind Probleme deutlich geworden.
Zum Beispiel?
Etwa die mangelnde Schutzausrüstung für Pflegekräfte in Pflegeeinrichtungen und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung. Da ging es nicht nur um die Vorratshaltung, auch die Frage nach der Kostenübernahme war lange nicht geklärt und hat zu Verzögerungen geführt. Ähnliches gilt für die Tests auf SARS-CoV-2. Außerdem haben wir gesehen, wie mangelhaft viele Gesundheitsämter ausgestattet sind. Aber die Politik reagiert jetzt: Vergangene Woche hat die Bundesregierung im Koalitionsausschuss entschieden, die Gesundheitsämter besser auszustatten und die Defizite dort zu beheben. Ich sehe gerade viel Bewegung.
Der Nachhaltigkeitsrat fordert in kürzlich erschienenen Empfehlungen zum Weg aus der Krise, strategische Wertschöpfungsketten für Europa zu definieren, etwa bei lebenswichtigen Arzneimitteln, sowie internationale Lieferketten transparenter zu gestalten und soziale sowie ökologische Standards zu beachten. Welche Rolle spielen die Verbraucherinnen und Verbraucher dabei?
Wir alle haben in der Krise die Lieferengpässe zu spüren bekommen, insbesondere bei der Schutzausrüstung – mit der Konsequenz, dass wir horrende Preise dafür bezahlen mussten. Auch schon vor der Krise gab es Engpässe bei bestimmten Medikamenten, insbesondere solchen, die in Asien produziert werden. Insofern glaube ich: Ja, das Bewusstsein in der Bevölkerung dafür ist gewachsen, dass wir bei Produkten der Daseinsvorsorge Lieferketten innerhalb Deutschlands und Europas aufbauen müssen.
Dazu braucht es aber finanzielle Förderung durch die Politik, oder sehen Sie andere Möglichkeiten, die Unternehmen dazu zu bewegen, die Produktion zurück zu verlagern?
Das kann nur durch finanzielle Anreize möglich gemacht werden. Insofern habe ich mich gefreut, dass der Koalitionsausschuss vergangene Woche eine gezielte Förderung für die Vor-Ort-Produktion von Medikamenten der Daseinsvorsorge in Aussicht gestellt hat.
Nicht alles lässt sich zurück nach Deutschland verlagern – die Alternative lautet Transparenz. Welche Ideen, Lieferketten offenzulegen, halten sie für vielversprechend?
Wie bei anderen Produkten ist es ein längerer, schwieriger Prozess, die Verbraucherinnen und Verbraucher dafür zu sensibilisieren, dass es nicht nur auf den Preis ankommt, sondern auch auf soziale und ökologische Standards. Eine Kennzeichnung kann hilfreich sein – aber eben nur eingeschränkt, weil man zwischen verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten unterscheiden muss.
Neben den Verbraucherinnen und Verbrauchern spielen ja auch die Kassen eine Rolle …
Aber die Kassen handeln ja nicht aus Eigeninteresse, sondern im Interesse aller Versicherten. Das ist im Gesundheitswesen die große Herausforderung, auf der einen Seite im Interesse der Versicherten möglichst effizient und kostengünstig zu wirtschaften, und auf der anderen Seite eine nachhaltige Versorgung sicherzustellen. Dieser Diskussion müssen wir uns stellen. Wir sollten realistisch sein: Wir stehen mit diesem Thema noch am Anfang.
Corona hat in vielen Bereichen zu einer Digitalisierung im Hauruck-Verfahren geführt. Welches Potential sehen Sie für diese Entwicklung im Gesundheitssektor?
Sicher hat die Corona-Krise eine gewisse Hemmschwelle bei vielen Menschen beseitigt, die sich bisher mit den Möglichkeiten digitaler Kommunikation schwergetan hatten. Dieser Schwung kann genutzt werden, nicht nur im Gesundheits-, sondern zum Beispiel auch im Bildungswesen. So kann Arbeit ergänzt und erleichtert werden. Was Technik aber nie ersetzen kann, ist menschliche Zuwendung.
Wie unterbezahlt und überlastet Care-Berufe im Gesundheits- und Pflegesektor sind, hat die Krise ebenfalls deutlich gemacht.
Pflegekräfte haben in den letzten Wochen und Monaten viel Anerkennung aus der Gesellschaft erhalten. Das ist schön, aber es reicht nicht, wenn es eine Eintagsfliege bleibt: Wir müssen diese Arbeit dauerhaft wertschätzen und entsprechend entlohnen. Da können wir auch von anderen Ländern lernen. Denn es geht nicht nur um die Bezahlung, auch um zuerkannte Kompetenz, gute Arbeitsbedingungen, Entlastung von Bürokratie und Aufstiegschancen.
Gute Rahmenbedingungen bedeuten dabei aber natürlich auch, ausreichend Personal in diesem Bereich zu haben. Nur so kann der aktuellen Überlastung entgegengewirkt werden. Die genannten Themen anzugehen, ist eine dringende Aufgabe für die nächsten Jahre.
Wie sehen Sie das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich?
Ich glaube schon, dass der bislang verhältnismäßig glimpfliche Krisenverlauf ein Ausdruck eines guten, funktionierenden Gesundheitssystems, einer solidarischen Gesellschaft, der hohen Qualifikation der Fachkräfte und der verhältnismäßig guten Ausstattung ist. Vor allem aber haben bei uns alle sozialen Schichten prinzipiell Zugang zu dieser Versorgung, das zeichnet uns im Unterschied zu vielen anderen Staaten aus. Außerdem bin ich überzeugt, dass die manchmal umstrittene föderale Struktur den regionalen Bedürfnissen entgegenkommt, auch wenn es die Absprachen manchmal kompliziert macht.
Trotz all dieser Pluspunkte: Auch bei uns gibt es ganz konkreten Handlungsbedarf…
…zum Beispiel?
Bis in die 1990er Jahre hinein waren wir deutlich besser auf Katastrophenfälle vorbereitet: An zehn Orten in Deutschland gab es große Lager, in denen Materialien und Medikamente für den Notfall vorgehalten wurden. Sie wurden zum Ende des Kalten Krieges aufgelöst, obwohl sie auch für Umweltkatastrophen oder Pandemien angelegt worden waren. Spätestens im Zuge der Flüchtlingshilfe 2015, als es an Feldbetten und Hygieneartikeln mangelte, haben wir gemerkt, wie sehr uns diese Vorräte fehlen. Die fehlenden Produkte mussten dann jeweils unter schwierigen Bedingungen teuer aus anderen Ländern beschafft werden. Schon vor zwei Jahren hat das Deutsche Rote Kreuz zusammen mit anderen Organisationen dem Bundesinnenministerium ein Konzept vorgelegt, wonach diese Lager erneut an zehn Standorten wiederaufgebaut werden und von den Hilfsorganisationen betreut werden sollen. Derzeit sieht es so aus, als werde das Konzept zügig umgesetzt, wir wollen noch dieses Jahr mit dem Aufbau beginnen. Die Erfahrungen, die wir in der Krise gemacht haben, werden dem Projekt Rückenwind geben.