Es geht voran. „Die Energiewirtschaft durchläuft die größte Transformation seit der Erfindung der Glühbirne“, sagt Gunda Röstel. Sie ist Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden und Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE). Dann zählt sie auf.
In Brandenburg entsteht mit dem ersten Solarpark von 187 Megawatt Leistung ohne jedwede Förderung ein kleines Großkraftwerk. Ein einzelnes Offshore-Windrad erzeugt heute so viel Strom wie früher ganze Parks, sogar 15-Megawatt-Anlagen sind geplant. Und: 2019 machte der Anteil von erneuerbaren Energien am Bruttoenergieverbrauch schon 42 Prozent aus. „Grund zum Zurücklehnen gibt es dennoch nicht“, meint sie und fordert: „Die Energiewende muss neu gedacht werden.“
Röstel startet damit eine lebhafte Diskussion beim Online-Forum zum Thema Klimaschutz und Dekarbonisierung mit dem Titel „Energiewende in, mit und durch Deutschland: Was steht jetzt an?“, zu dem der Rat für Nachhaltige Entwicklung am 3. September 2020 geladen hatte. Es ist Teil einer Serie von interaktiven Webinaren, in denen das Beratungsgremium der Bundesregierung über den Sommer und Herbst Zukunftsthemen vertieft. Denn: Auch wenn die Stromproduktion bereits umgebaut wird, eine wirkliche Energiewende ist das noch nicht.
Ökologischer Wumms
Claudia Kemfert leitet die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Die Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit erklärt: „Die Treibhausgasemissionen müssen auf null, und zwar sehr schnell.“ Sonst sei das weltweite Klimaziel nicht zu erreichen, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Es fehle bisher aber an „ökologischem Wumms“.
Das 130 Milliarden Euro schwere Corona-Konjunkturpaket der schwarz-roten Bundesregierung sei „nur zu 38 Prozent grün“ und damit nicht auf eine mittel- bis langfristige Wirtschaftspolitik ausgerichtet. Die erneuerbaren Energien müssten stärker ausgebaut, Energieeinsparungen durch klimaschonende Technologien vorangebracht werden. Die Wirtschaft müsse vollständig dekarbonisiert werden, der Verkehr ebenso.
Die Bundesregierung setzt für die Energiewende unter anderem auf Wasserstoff. Erst vor kurzem hat sie eine „nationale Wasserstoffstrategie“ verabschiedet und einen Wasserstoffrat eingerichtet, in dem auch Mitglieder des Nachhaltigkeitsrates vertreten sind, darunter Gunda Röstel. Deutschland soll eine, sagt sie, „technologische Vorreiterrolle“ einnehmen, das weltweite Wasserstoff-Innovationsland werden. Es gebe bereits Erfolg versprechende Unternehmen, das Dresdener Wasserstoff-Start-Up Sunfire beispielsweise, das alternative Kraftstoffe entwickeln will. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat bereits dafür plädiert, beim Aufbau der Wasserstoffwirtschaft „konsequenter, schneller und internationaler als bisher“ vorzugehen.
Grüner, türkiser, blauer, grauer Wasserstoff
Wasserstoff, H2, hinterlässt beim Verbrennen keine Treibhausgase und lässt sich als Ersatz für Öl, Kohle, Erdgas einsetzen. Allerdings braucht es viel Energie, um ihn zu produzieren. Und wirklich CO2-frei ist er nur, wenn Wasser mit Ökostrom in seine Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff in sogenannten Elektrolyseuren gespalten wird. Bisher gibt es in Deutschland aber weder die Elektrolyseure noch ausreichend Ökostrom, um nennenswerte Mengen dieses „grünen“ Wasserstoffs herzustellen.
Neben Kooperationen mit anderen Ländern, um Wasserstoff etwa aus EU-Staaten mit Offshore-Wind oder auch aus Nordafrika mit viel Sonnenenergie zu importieren, plädiert Röstel darum für eine „Übergangsphase“, in der auch „blauer“ Wasserstoff zum Tragen kommt. Er entsteht aus Erdgas, das dabei freiwerdende CO2 wird mit dem umstrittenen CCS-Verfahren aufgefangen und gespeichert. Geforscht wird auch an „türkisem“ Wasserstoff. Er geht aus der Spaltung von Methan hervor, statt CO2 soll dabei fester Kohlenstoff entstehen. Derzeit wird der meiste Wasserstoff, er nennt sich „grau“, allerdings noch aus Erdgas oder Kohle gewonnen und das CO2 entweicht.
Champagner der Energiewende
Kemfert, die auch Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ist, hält nichts von grauem, türkisem oder blauem Wasserstoff. Denn damit werde, sagt sie, nur das fossile Geschäftsmodell verlängert und der vollständige Umstieg auf erneuerbare Energien blockiert. Ohnehin sei Wasserstoff nicht das neue Öl, wie manche behaupteten, sondern „eher der Champagner der Energiewende“, also kostbar. Wasserstoff ist aufwändig herzustellen und teuer. Er sei nur dort zu nutzen, so Kemfert weiter, wo es nicht anders gehe – in Flugzeugen, Schiffen, Lkw oder in der Chemie-, Stahl-, Zementindustrie. In einem sind sich bei diesem Forum alle einig: Wasserstoff ist nur ein Baustein der Energiewende.
Jörg-Andreas Krüger, Präsident des Naturschutzbundes NABU und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung sagt es am Ende so: „Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, eine Technologie zu fördern und zu erwarten, dass diese alle Probleme regelt. Wir haben einen tiefgreifenden Wandel zu bewältigen.“ Dafür müsse die ganze Gesellschaft gewonnen werden. Aber wie?
Lust auf den Wandel
Mit „Ehrlichkeit in der Debatte“, sagt Krüger. Die persönlichen Lebensbedingungen würden sich ändern. Wird zum Beispiel das Fliegen, das die Erderhitzung vorantreibt, teurer, so wird man seltener ins Flugzeug steigen. Auch die Landschaft werde sich wandeln. Agrarflächen werden mit Solarmodulen bestückt, Windparks installiert und Stromtrassen von Nord nach Süd gezogen. Derzeit sei der Frust der Bürgerinnen und Bürger bei diesen Projekten oft groß, auch weil es an einer übergeordneten Planung fehlt, um dann den übergeordneten Sinn einzelner Standortentscheidungen zu verdeutlichen.
„Wir müssen Lust machen auf den Wandel“, sagt Krüger zudem, sodass Bürgerinnen und Bürger den Diesel gegen das E-Auto eintauschen oder eine Solaranlage auf ihrem Dach installieren. 2019 bei der Europawahl sei der Klimaschutz mit wahlentscheidend gewesen. „So muss das auch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr sein.“ Nicht nur die Energiewirtschaft muss umbauen. Gefragt sind: alle.