„Die Kunst ist das Gegengift zum Spezialistentum“

Welche Rolle spielt die Kunst in der Nachhaltigkeitsdebatte und wie lässt sie sich fördern? Ein Gespräch zwischen der Kuratorin Adrienne Goehler und dem Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung Günther Bachmann.

Frage: Adrienne Goehler, welche Rolle können Kunst und Kultur spielen, um die Industriegesellschaft umzubauen – und ökologischer, gerechter, zukunftsfähiger zu gestalten?

Adrienne Goehler: Die Kunst ist das Gegengift zum Spezialistentum. Sie kann das Unbewusste aufdecken, an die Vorstellungskraft der Menschen appellieren. Zur Zeit krankt die Nachhaltigkeitsdebatte daran, dass sie vor allem auf technische Neuerungen setzt. Wie ich als Individuum etwa mit dem Klimawandel und seinen furchtbaren Folgen umgehen kann, wird völlig vernachlässigt. Natürlich wissen die Leute eigentlich, was zu tun ist, weniger fliegen, im Bioladen einkaufen. Und so fort. Aber es geht um mehr, um die Idee, gebraucht zu werden.

Günther Bachmann: Spezialisten versus Künstler zu stellen – das ist einfach nicht richtig. Es gibt in beiden Welten Experten, die sich anderen verschließen. Modern ist das allerdings nicht. Ein moderner Experte, egal welcher Disziplin, sollte sein Wissen immer auch gegenüber der Öffentlichkeit reflektieren.

Adrienne Goehler: Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich war kurze Zeit Kultur- und Wissenschaftssenatorin in Berlin, davor habe ich zwölf Jahre die Hochschule für bildende Künste in Hamburg geleitet. Ich habe gesehen, wie die Universitäten immer enger und Experten-mäßiger werden. Sie sind nach den Maßstäben von Unternehmensberatungen zugerichtet, die bekanntlich ihr Wissen nie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.

Wo hat die Kunst die Nachhaltigkeitsdebatte schon vorangebracht, also Wirkung erzielt?

Adrienne Goehler: In der Ausstellung „ZNE – Zur Nachahmung empfohlen! Expeditionen in Ästhethik und Nachhaltigkeit“ zum Beispiel, mit der ich seit sieben Jahren durch die Welt toure und die mehr als 70 künstlerische Konzepte und Werke zeigt. Etwa das „Mínimum Moment” der brasilianischen Künstlerin Néle Azevedo. In partizipatorischen Aktionen setzt sie zarte Eisskulpturen – alle aus der gleichen Form entstanden – vorzugsweise auf Treppen vor Kirchen und Parlamenten. Die Figuren schmelzen, jede ganz individuell. Man kann den Klimawandel kaum poetischer sichtbar machen. Da braucht man keine Erklärung, keine Tafel. Er wird Teil einer Erfahrung. Passanten halten den Atem an.

Günther Bachmann: Ja, das ist ein tolles Beispiel dafür, was Künstler besser können als andere, nämlich Zusammenhänge sichtbar machen und einen emotionalen Zugang schaffen. Das sind Experten, die wir brauchen. Wir brauchen nicht jene, die anderen Leuten über Powerpoint-präsentationen, über Kunst, über dicke Bücher sagen: „Ihr habt alle keine Ahnung, aber ich habe sie!“ Die überwiegen zur Zeit aber noch.

Adrienne Goehler: Das Problem ist doch, dass wir zwar heute überall alles wissen können hinsichtlich des fragilen Status der Welt, das scheint aber Menschen eher zu erschlagen und dieses „Ich kann ja eh nichts machen“-Gefühl hervorzurufen. Gegen diesen Immunisierungseffekt hat die Kunst fragile Werkzeuge. Da geht es um Ästhetik, verstanden als die Summe der Wahrnehmung, Ästhetik bedeutet ja nicht nur Schönheit, sondern Sinnenbewusstsein.

In welchem Verhältnis stehen Kunst und Politik zueinander?

Günther Bachmann: Politiker dürfen Künstler nicht instrumentalisieren, sie müssen selbst handeln. Sie sind aber gut beraten, sich mit den Künstlern auseinanderzusetzen. Zumal sie selbst Teil der Politik sein können. Bei der letzten Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung haben wir einen Film der Global Arts Corps gezeigt. Unter der Leitung von Michael Lessac haben sie ein Theaterstück zur Versöhnung nach Völkermord und Krieg gemacht, zusammen mit jungen Leuten aus Kambodscha. Sie bekommen über die Massenmorde der Roten Khmer in den Killingfields sonst kaum noch etwas erzählt. Aber Zukunft lässt sich nur gewinnen, wenn man was über die Vergangenheit weiß. Nach zwei Vorführungen in Phnom Penh reisten alle Schauspieler nach Ruanda und spielten dort. Da trafen sich Überlebende zweier Genozide, es wurden Grenzen gesprengt. Das ist nichts anderes als Politik.

Adrienne Goehler: Ich bin nicht Teil der Politik, sondern Teil der Gesellschaft, die von Politik etwas fordert und dabei meistens frustriert wird. Ich weiß nicht, wie oft ich schon öffentlich, im Gespräch mit der Politik, moniert habe, dass die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit vernachlässigt wird.

Was machen die Künstler selbst falsch, wenn sie nicht durchdringen?

Günther Bachmann: In der Wirtschaft, aber auch in der Kunst gibt es ein Missverständnis von Politik. Das sagt man dann mit so einer gewissen Larmoyanz: Politik machen doch nur jene, die gewählt wurden, und die sind eigentlich alle unfähig. Mein Politikverständnis ist ein anderes. Wir sind alle Teil von Politikzirkeln. Politik kann jeder in der Gesellschaft machen, auch ohne gewählt zu sein.

Adrienne Goehler: Ich versuche gesellschaftlich wirksam zu sein, und ich unterscheide das von der Regierungspolitik, die ich ja aus meinem „Regierungspraktikum“ kenne. Da habe ich das Fürchten bekommen, weil alles nur in Silos gedacht und verhandelt wird.

Günther Bachmann: Inklusive der Kultur.

Adrienne Goehler: Ja. Ich bin eigentlich Kuratorin gegen meinen erklärten Willen geworden. Ich habe festgestellt, dass die künstlerischen Konzepte, die es zum Erhalt des Planeten gibt, kein politisches Gegenüber haben. Die in der Umweltpolitik sagen: Schöne Idee. Aber das ist Kunst. Das dürfen wir gar nicht fördern. Der Rechnungshof! Die Bundeskulturstiftung hat mal drei Jahre Nachhaltigkeit gemacht, jetzt machen sie Subsahara. Ich will mich gar nicht distanzieren von den gewählten Volksvertretern, ich sage nur, sie denken in lauter Silos. Du fällst als Künstlerin, die sich mit ökologischen Fragen auseinandersetzt, durch alle Ritzen. Darum will ich einen Fonds für Ästhetik der Nachhaltigkeit. Seit langem.

Günther Bachmann: Das stimmt, lässt aber eins aus. Künstler und Kulturleute sind Mimosen, die den Begriff der Freiheit der Kunst vor sich hertragen als Abwehr. Das erlebe ich ganz oft. Als Bürger, als Konsumenten soll man sich an ökologische Kriterien halten. Schon richtig. Aber ich als Künstler? Nein, da bin ich frei. Ich lasse mir nicht reinreden, wie viel Lux ich beim Filmen nehmen darf oder wie viel bleihaltige Farbe ich auf die Leinwand tue.

Adrienne Goehler: Es gibt eine große Empfindlichkeit, Angst instrumentalisiert zu werden.

Günther Bachmann: Diese Abwehrkräfte unter dem Freiheit-der-Kunst-Verständnis sind stärker als unser Werben für eine gemeinsame Verantwortung für die Erde.

Adrienne Goehler: Das teile ich nicht. Da muss ich doch nochmal zurückgehen auf eine Prämisse, die ich bei meiner Ausstellungstätigkeit gesetzt habe. Ich beauftrage keine Arbeit, sage nicht, „mach mal eine Arbeit zu Wasser, Kohle oder zu Biodiversität“. Ich finde die. Auch um wegzukommen von der Frage: Machst Du jetzt Ökokunst? Ich weiß noch, wie sich Joseph Beuys bei den Grünen immer wieder um ein Parlamentsmandat beworben hat und damit immer grandios gescheitert ist. Kein Mensch hätte ihm sagen können, mach jetzt mal was zu Grün. Der hätte gesagt: Spinnst Du? Alles was ich mache, ist grün. Bereits existierende Werke zu nehmen, ist auch eine Haltung gegen die Schnelllebigkeit der Kunst. Wir haben einfach falsche Fördersysteme. Es muss immer ganz neu sein, darf noch nie da gewesen sein, muss innovativ, multikulturell alles sein, statt dass sich Arbeiten in anderen Kontexten weiterentwickeln können.

Wie lassen sich Künstler vernünftig unterstützen?

Adrienne Goehler: Man müsste Künstlerinnen und Künstlern mal die Möglichkeit geben, drei Jahre an einem Projekt zu arbeiten, sich auch mal mit Psychologen und Naturwissenschaftlern zusammen zu setzen. Das wäre eine ganz neue Form der Zusammenarbeit. Ich rede nicht vom Mainstream der Kunst. Der ist so wahnsinnig neoliberal, der macht mich auch krank. Aber ich sehe mehr und mehr Künstlerinnen und Künstler, die sich um den Zustand der Welt sorgen und fragen, was sie mit ihren Mitteln tun können. Ravi Agarwal aus Indien sagte mir mal: „I am an artivist. Die Kunst ist meine Möglichkeit, meine Opposition zu dem, was in diesem Staat und mit den Ressourcen passiert, deutlich zu machen.“

Günther Bachmann: Ich finde einen Fonds für Ästhetik der Nachhaltigkeit sehr gut. Aber er müsste auch Langzeitbeobachtungen erlauben und Anleihe nehmen an dem so verhassten technischen und naturwissenschaftlichen Betrieb.

Adrienne Goehler: Der ist nicht verhasst!

Günther Bachmann: Doch. Er wird immer abgegrenzt. Im naturwissenschaftlichen Zusammenhang kennen wir die Idee des Gegengutachtens. Einer macht ein Gutachten. Dann gibt es ein Gegengutachten. Macht einer ein Kunstwerk, gibt es dann auch ein Gegenkunstwerk? Gibt es eingreifende Kunst, die Kunst in der Kunst kommentiert? Gibt es einen Gegenkunstmarkt? Der Mainstream im Kunstmarkt explodiert. Wie sieht das Gegenkonzept aus? Das müsste ein Fonds mit abdecken.

Adrienne Goehler: Interessant wäre, wenn die Kunst mit ihren Mitteln das Gegengutachten machen würde.

Um wie viel Geld geht es?

Adrienne Goehler: Ich stelle mir sechs bis zehn Millionen Euro im Jahr vor, auf keinen Fall unter sechs Millionen und nicht auf zwei Jahre begrenzt. Am besten schauen wir nach fünf Jahren, gerne mit wissenschaftlicher Begleitung, was sich da entfaltet hat. In den Jurys sollten Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaften, den Künsten und von Nichtregierungsorganisationen sitzen. Das wäre eine neue Form der Zusammenarbeit.

Günther Bachmann: Der Rat für Nachhaltige Entwicklung kann das nicht selbst entscheiden, aber wir unterstützen die Idee. Der Fonds müsste tatsächlich auch annähernd so groß sein wie Adrienne Goehler vorschlägt. Sonst hat das nicht die Attraktion, die wir brauchen. Das muss bemerkbar sein. Dafür werben wir im Deutschen Bundestag und sonst in der Politik. Wir haben das auch im Rahmen der Vorschläge für die Bildung einer neuen Regierung einfließen lassen. Wir sind nicht diejenigen, die das Geld haben und uns weigern, es weiterzugeben.

Immerhin haben Sie beim Rat für Nachhaltige Entwicklung seit kurzem den Fonds für Alltagskultur, wie ist der denn zustande gekommen?

Günther Bachmann: Ich bin schon seit geraumer Zeit regelmäßig bei Bundestagsabgeordneten und habe mit ihnen darüber geredet, was den größten Unterschied machen könnte – um Nachhaltigkeit aus dem Raumschiff Berlin ins Land zu bringen. Ich habe auch vorgetragen, dass wir schon einen Oberbürgermeisterdialog machen. Und ich habe gesagt, dass wir Vorbilder sichtbar machen und zeigen wollen, wie es funktionieren kann. Nachhaltigkeit spielt ja in der Lebenswirklichkeit der Menschen eine immer größere Rolle. Längst kümmern sich auch traditionelle Vereine und Einrichtungen darum. Dann wurde ich nach meinem Vorschlag gefragt. Ich sagte: Alltagskultur.

Darin stecken jetzt die zehn Millionen Euro?

Günther Bachmann: Nein, für den Alltagskulturfonds haben wir 7,5 Millionen Euro für drei Jahre bekommen. Damit werden wir jetzt als erstes Projekte zur Esskultur fördern. Dazu können Kitas gehören, die Schnippelpartys machen, Vereine, die was gegen Lebensmittelverschwendung unternehmen. Da geht es nicht um Kunst, sondern um Kulturpraxis.

Adrienne Goehler: Das verwischt sich in der öffentlichen Wahrnehmung aber. Mich haben mehrere Menschen beglückwünscht, dass jetzt endlich ein Fonds Ästhetik der Nachhaltigkeit existiert.

Günther Bachmann: Manche denken bei Kulturfragen sofort an Kunst und Kultur und nicht an Alltagskultur wie Ess-, Bau- oder Mobilitätskultur. In der Politik kommt die allerdings besser an als die Kunst.

Adrienne Goehler: Aber mir sagen jetzt Haushaltspolitiker im Bund: Wir haben das Geld, das Sie wollten, doch schon bewilligt! Die Unterscheidung Alltagskultur hier, Kunst dort ist nicht klar. Ich halte sie sogar für obsolet. Der Philosoph Michel Foucault hat gesagt, Heterotopien, wirksame Orte, seien an den Rändern, dort wo Gewissheiten verloren gehen. Dort wird es interessant, wo Überlappungen möglich sind. Heute wird das Gemüse in den Berliner Prinzessinnengärten in Kisten mit der fruchtbaren schwarzen Erde, Terra Preta, gezogen. Aber dorthin gebracht hat sie erst eine japanische Künstlerin – als Alltagskultur aus dem Amazonas.

Günther Bachmann: Die Prinzessinnengärten könnten sich als Verein auch um eine Förderung aus dem Fonds für Alltagskultur bewerben. Wir vergeben sie nur nicht an einzelne Personen, also auch nicht an einen allein schaffenden Künstler. Das Geld soll immer an gemeinnützige Einrichtungen fließen. Die Entscheidungen, was und wer dies bekommt, trifft eine Arbeitsgruppe des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Darin sitzen die Ratsvorsitzende Marlehn Thieme, ihr Stellvertreter Olaf Tschimpke und ich. Je nach Thema werden wir weitere Personen aus dem Rat mit einbeziehen. Auch können wir Dritte als Gutachter mit heranziehen.

Wie bringt Adrienne Goehler nun den Fonds für Ästhetik der Nachhaltigkeit auf den Weg?

Günther Bachmann: Ich werbe dafür, dass es einen Bundeshaushaltstitel Ästhetik der Nachhaltigkeit geben wird.

Das Gespräch moderierte Hanna Gersmann.

 

Adrienne Goehler

Adrienne Goehler ist seit 2006 freie Kuratorin und Autorin. Sie war zuvor Präsidentin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, parteilose Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in der rot-grünen Übergangsregierung des Landes Berlin 2001 sowie Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds. Sie ist Initiatorin und künstlerische Leiterin der Wanderausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“, Initiatorin eines Fonds „Ästhetik der Nachhaltigkeit“ und ist Theoretikerin für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

 

Günther Bachmann

Günther Bachmann ist Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung, ein Beratungsgremium, das 2001 von der damaligen rot-grünen Regierung ins Leben gerufen wurde. Es soll die Politik bei der Umsetzung von Strategien für eine zukunftsfähige Gesellschaft unterstützen. Der promovierte Landschaftsplaner hat zuvor das Fachgebiet Bodenschutz im Umweltbundesamt geleitet. Sein jüngster Aufsatz: „Nachhaltigkeitskultur – Eine Waffe gegen die falsche Normalität“ in „Politik und Kultur“ (1/2018) des Deutschen Kulturrates.

 

Hier finden Sie weitere Informationen zum Fonds Nachhaltigkeitskultur des Rates für Nachhaltige Entwicklung.