Sie sind der Mitgründer des Sozialunternehmens Kiron Open Higher Education. Was steckt dahinter?
Markus Kreßler: Wir haben eine digitale Bildungsplattform geschaffen, über die Geflüchtete in der ganzen Welt flexibel lernen oder ihr Studium fortsetzen können, ganz gleich an welchem Ort sie sich befinden. Wir wollen mit unserem Projekt eine Lösung für ein globales Problem anbieten – nämlich Geflüchteten Zugang zu Hochschulbildung zu verschaffen.
Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich habe jahrelang selbst gesehen, wie Menschen in der Bürokratie gefangen sind und ein wahnsinniges Potenzial damit verloren geht. Das wollten mein Mitgründer Vincent Zimmer und ich ändern. Mit unserem Angebot bereiten wir die Geflüchteten auf das Lernen an der Universität vor. Wir sind eine Art digitaler Lehrer und Wegweiser, wie Kiron, der „Pferdemensch" aus der griechischen Mythologie. Vor rund zwei Jahren sind wir mit „Kiron" online gegangen und haben die ersten 1.000 Studierenden aufgenommen. Wir wollen den Studierenden mit ihren besonderen Bedingungen eine faire Chance bieten. Ziel ist, dass sie bald von der virtuellen an die reale Hochschule wechseln und langfristig den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen.
Wer lernt über Kiron?
Bei uns melden sich Leute an, die in ihren Heimatländern bereits studiert haben oder die vorhaben, sich beispielsweise in Deutschland an einer Hochschule einzuschreiben. Derzeit haben rund 2.300 Studierende Zugang zu den Kursen auf der Plattform. Viele haben sich zunächst für einen Sprachkurs oder einen Vorbereitungskurs eingeschrieben. Sie lernen Deutsch über die Plattform, studieren Betriebswirtschaftslehre, Soziale Arbeit, Politikwissenschaften, Informatik und Maschinenbau. Die meisten sind zwischen 20 und 29 Jahre alt, aber auch eine größere Gruppe an Geflüchteten über 30 Jahre studiert bei uns. Ärzte, Architekten, Maschinenbauer sind dabei, aber auch Wirtschaftswissenschaftler oder Informatiker. Ihre Abschlüsse werden hier in der Regel nicht anerkannt.
Wie können Geflüchtete das Angebot nutzen?
Die Menschen loggen sich aus der ganzen Welt auf unserer Plattform ein. Viele kommen aus Syrien oder aus Afghanistan und Somalia. Die Menschen sitzen in Flüchtlingslagern in Jordanien, in der Türkei oder in Aufnahmeunterkünften in Deutschland. Über uns können die Geflüchteten nicht nur Inhalte lernen, sondern mithilfe unserer zusätzlichen Angebote, wie etwa einem sogenannten Buddyprogramm, sich gegenseitig kennenlernen und austauschen. Wir versuchen zudem die Lernbedingungen der Geflüchteten zu verbessern, etwa mit Räumen oder einer guten WLAN-Verbindung.
Müssen Sie Bewerber ablehnen?
Die Nachfrage ist riesengroß. Wenn wir ausreichend finanzielle Mittel hätten, könnten wir 10.000 Studierende aufnehmen. Viele Unternehmen unterstützen uns, finanzieren Stipendien für unsere Studierenden und bieten Mentoring-Programme an. Anbieter von Online-Lernangeboten stellen uns ihre Inhalte gratis zur Verfügung und wir reichern diese dann mit unseren Tutorien an. Zusätzlich bekommen wir staatliche Hilfen und Unterstützung von Stiftungen, erhalten aber auch private Spenden. Im Moment wenden wir uns ganz gezielt über soziale Netzwerke oder unsere Partneruniversitäten an geflüchtete Studierende. Zu den 41 Partnerhochschulen gehören in Deutschland unter anderem die RWTH Aachen, die Fachhochschule Lübeck, die Hochschule Heilbronn oder die Leuphana Universität Lüneburg.
Welche Rückmeldung bekommen Sie von den Geflüchteten?
‘Wir bekommen die Chance, unser berufliches Schicksal wieder selbst zu gestalten’ – diese Antwort erhalten wir von vielen Geflüchteten, die an unserem Programm teilnehmen. Und das, obwohl viele Studierende schlechte Lernbedingungen haben. Vor allem in den Flüchtlingscamps gibt es oft nicht genügend Platz oder eine gute Internetverbindung, damit der Zugang zu den Kursen klappt. Wir versuchen auch hier über unsere Partner zu helfen. Abgesehen davon ist Online-Lernen nicht für jeden selbstverständlich. Es gibt einige Studierende, die wahnsinnig gut klarkommen in dem System, zum Beispiel was die Selbstorganisation des Studiums angeht. Andere brauchen einen Stundenplan von uns, der ihnen das Lernen erleichtert und strukturiert. Jeden Tag müssen wir etliche Fragen beantworten. Es geht dabei viel um technische Details, aber auch um die Anerkennung unserer Kurse. An manchen Universitäten etwa im Libanon werden Online-Kurse noch nicht anerkannt, dort stellen wir den Studierenden ein Zertifikat aus.
Gibt es auch Abbrecher?
Ja, die gibt es natürlich. Unsere ursprüngliche Idee war es, den Geflüchteten eine Möglichkeit zu bieten, wie sie die Zeit überbrücken können, bis sie alle Papiere zusammen haben. Sobald alle Dokumente da sind, empfehlen wir allen Studierenden, sich an unseren Transfer-Service zu wenden. Wir prüfen dann, ob Kurse an der „realen" Universität auch anerkannt werden oder ob es einfacher wäre, weitere Online-Kurse über Kiron zu belegen.
Die hohen Flüchtlingszahlen gelten als eine der größten Herausforderungen dieser Zeit. Wie kann Ihr Projekt bei der Integration der Menschen helfen?
Die Geflüchteten bekommen die Chance selbst zu entscheiden, wo sie hin wollen. Der Transfer ist für uns entscheidend und die Fähigkeit, kritisch zu reflektieren und zu lernen. Unsere Plattform ist eine Möglichkeit, wie Geflüchtete am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Das beste Mittel zur Integration ist dafür zu sorgen, dass es kein Silo-Denken gibt und keine abgekapselten Parallelgesellschaften. Unser Motto ist eher „Die schaffen das" – und nicht unbedingt das Credo „Wir schaffen das".
Wie kann Digitalisierung beziehungsweise die digitale Lehre zur nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft beitragen?
Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Qualität der Lehre zu verbessern. Ich finde es faszinierend, wie gute Inhalte dank der technischen Möglichkeiten zeitgleich Millionen Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Dadurch werden Ressourcen an den Hochschulen frei für die eigene Forschung, für Lernprojekte und die eigenen Studierenden. Die digitale Lehre lohnt sich auch aus wirtschaftlicher Perspektive, schließlich können viel mehr Menschen erreicht werden. Nicht nur Geflüchtete, sondern auch Menschen, die in entlegenen Regionen leben.
Welche nächsten Schritte sind geplant?
In diesem Jahr geht es uns vor allem um die Aktivierung der Studierenden. 2018 haben wir verstärkt den Transfer von der virtuellen Hochschule an die reale Universität im Blick. Wir wollen die Plattformen künftig auch in anderen Ländern etablieren.
Welche Unterstützung wünschen Sie sich?
Wir brauchen vor allem finanzielle Hilfe, damit wir unsere Pläne umsetzen können. Ich wünsche mir, dass Politiker für unser Projekt werben. Wir sind keine Konkurrenz für die Hochschulen, sondern eine Ergänzung, eine weitere Möglichkeit zu lernen. Wir arbeiten nach der Airbnb-Logik: Man muss nicht eigene Hotels bauen, um Anbieter von Apartments zu werden. Dasselbe gilt auch für den Hochschulbereich. Aktuell liegt ein besonderer Fokus neben Deutschland auf der Türkei, Frankreich und Jordanien, um dort unser Bildungsmodell mit allen Unterstützungsangeboten zu implementieren und verstärkt akademische Partnerschaften zu schließen. Die Vision einer UN-Universität für Geflüchtete habe ich noch nicht verloren. Schließlich ist der Zugang zu Bildung auch Teil der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Sie ist ein Schlüssel gegen Armut und Ausgrenzung.
Die Bildungsplattform Kiron ist keine staatlich anerkannte Universität, aber die Kurse werden an den deutschen Partnerhochschulen anerkannt. Dort kann nach dem etwa zweijährigen Online-Studium und einem weiteren Präsenzstudium von durchschnittlich weiteren zwei Jahren ein Abschluss erworben werden. Im Ausland gelten mitunter andere Bestimmungen. Kiron berät über den Transfer-Service Studierende, welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um an den Universitäten beispielsweise einen Bachelor-Abschluss zu machen.
Das Interview führte Tanja Tricarico.