Eine Wende brauche „eine gute Geschichte“, sagt Hans Joachim Schellnhuber auf der 21. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) in Berlin. Schellnhuber ist einer der renommiertesten Klimaforscher, er hat das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) gegründet und bis 2018 geleitet.
„Der größte Elefant im Klimaraum ist das Bauwesen“, sagt er, der mit anderen Fachleuten zusammen das „Bauhaus Erde“ gegründet hat, um dies zu ändern. Für rund 40 Prozent der global ausgestoßenen Treibhausgase sind das Bauen und Betreiben von Gebäuden und Infrastrukturen verantwortlich. Und das ist nicht alles: Die Hälfte der gesamten Abfälle in den westlichen Industrieländern entstehe durch Bau und Abriss. Allein in Deutschland werden täglich etwa 45 Hektar naturnaher Landschaft in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt. Und doch wurde dieser Riese der Klimasünden lange nicht erkannt.
„Wir hätten längst in eine andere Richtung gehen müssen“, sagt Schellnhuber. 2019 habe das Grönländische Eisschild einen Rekordverlust an Masse verzeichnet: Eine Million Tonnen Eis seien da verloren gegangen, und zwar jede Minute. Die Menschheit rase auf die Planken zu, die das Pariser Klimaabkommen 2015 gesetzt habe. Schon heute liege die mittlere Temperatur der Erdoberfläche um 1,25 Grad über dem vorindustriellen Niveau. „Wir gehen in Richtung 3, 4, 5 Grad“, so der Klimaforscher. „Das wäre eine andere Welt, in der die Zivilisation nicht überleben könnte.“ Die Erderwärmung, sagt er weiter, „müssen wir relativ knapp oberhalb zwei Grad zum Stehen bringen – und dann müssen wir uns zurückarbeiten.“
Jetzt erst recht
Aber geht nicht erst einmal anderes vor? Die Klimakrise ist nicht die einzige Krise. 2019 brach das Corona-Virus aus, am 24. Februar dieses Jahres kam der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dazu. Menschen sorgen sich um eine warme Wohnung, einen vollen Kühlschrank, wie sie zur Arbeit kommen. Deutschland steckt in existenziellen Problemen, die ganze Welt tut es. Ein Grund den sozial-ökologischen Umbau aufzuschieben, sei das aber nicht. Ganz im Gegenteil. Da sind sich die Teilnehmenden einig, darunter viele Regierungsmitglieder. Die Debatte lohnt sich nachzuvollziehen. Sie sagt viel darüber aus, wie wichtig Nachhaltigkeit in der Krise genommen und mit wem auch weltweit vorangebracht werden soll.
„Jetzt erst recht“, erklärte Sarah Ryglewski, die als Staatsministerin im Kanzleramt für die Bund-Länder-Beziehungen und die Nachhaltigkeitspolitik zuständig ist. Sie vertrat kurzfristig Bundeskanzler Olaf Scholz, der eigentlich als Hauptredner zur Konferenz kommen wollte, doch dann an Corona erkrankte. „Wir merken doch alle, wie abhängig wir sind von fossiler Energie“, sagte Ryglewski. Zugleich eskalierten die ökologischen Krisen. Da ist die Flutkatastrophe in Pakistan, die Dürre am Horn von Afrika, auch gibt es die vielen Waldbrände in Europa. Deutschland wolle, so Ryglewski, als erstes großes Industrieland bis 2045 klimaneutral werden. Bis 2030 solle der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch auf mindestens 80 Prozent steigen. Darum würden nun auch Planung und Genehmigungen für die Infrastruktur beschleunigt. Und die Bundesverwaltung solle bis 2030 klimaneutral gemacht werden. Die Transformation zur Nachhaltigkeit sei kein Hindernis, sondern eine wirtschaftliche Chance. „Wenn wir die verpassen, werden wir abgehängt“, so die Staatsministerin. Auch von seinen internationalen Verpflichtungen werde Deutschland nicht abweichen.
Ein Feuer der Begeisterung für Nachhaltigkeit
Deutschland und die Welt nachhaltig umbauen – das wollen viele. Natürlich gibt es auch Stimmen, die sagen „Krisenmanagement zuerst – Transformation, Wandel, Klimaneutralität später“. Denen müsse „kraftvoll entgegengetreten“ werden, so der RNE-Vorsitzende Werner Schnappauf. Stattdessen brauche es „ein Feuer der Begeisterung im ganzen Land“. Schnappauf rief dazu auf „überall Projekte zur Nachhaltigkeit“ zu starten: „Wir brauchen jetzt die Innovationskraft der Unternehmen und ein neues Miteinander von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft.“ Dazu sei jede und jeder gefragt.
Aus diesem Grund haben Staatsministerin Sarah Ryglewski und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, derzeit Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, auf der Jahreskonferenz das „Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit“ gestartet. Es ist eine Initiative von Bund und Ländern, die Koordination liegt beim RNE. Das Motto lautet: „Und jetzt alle“. Auf einer Webplattform können sich Organisationen mit ihren Nachhaltigkeitsaktivitäten und Ansprechpersonen eintragen. So sollten, erklärte Lisi Maier, RNE-Mitglied und Direktorin der Bundesstiftung Gleichstellung, Akteure zusammengebracht werden, die bisher nicht zusammengearbeitet haben, und Ideen zusammengetragen werden.
Holz statt Beton
An dieser Stelle kommt zum Beispiel die Idee des Klimaforschers Schellnhuber wieder ins Spiel, die uns in unsicheren Zeiten eine Perspektive bietet. Er will analog der Bauhaus-Bewegung des 20. Jahrhunderts die bebaute Umwelt nachhaltig transformieren. Bisher sei diese „dysfunktional hässlich“, sagt er: „Wir bauen auf die falsche Weise, dass sich die menschliche Seele nicht wohlfühlen kann“. Sein Gegenmodell: „Reforest the planet, retimber the city.“ Wälder werden weltweit klimagerecht aufgeforstet, zugleich die Architektur umgestellt – von Stahlbeton und Ziegeln hin zu organischen Materialien. Von einer „Wald-Bau-Pumpe“, spricht Schellnhuber, mit der sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre sogar senken lasse. Denn: Bäume nehmen große Mengen CO2 auf, wenn sie wachsen.
Die Politik beginnt, sich damit auseinanderzusetzen. Ursula von der Leyen, Präsidentin der europäischen Kommission, hat 2020 die Initiative Neues Europäisches Bauhaus ins Leben gerufen. Ruth Reichstein bringt die Idee in der kommissionsinternen Denkfabrik I.D.E.A. voran. Viele riefen nach „Technologieneutralität, alles gleichwertig zu behandeln“, das sei bei Holz und Lehm aber lange nicht gemacht worden, betonte sie bei der Jahreskonferenz. Beton wird bisher bevorzugt. Laut Cansel Kiziltepe, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, erarbeitet ihr Ressort derzeit eine Holzbaustrategie gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium.
Ein Selbstläufer ist die Bauwende nicht. Es gebe einen „riesigen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum“, sagte Martin Horn, Oberbürgermeister der Stadt Freiburg im Breisgau. Da brauche es auch Geld von Bund und Land, um Kommunen zu unterstützen, die ambitioniert bei einer ökologisch-sozialen Bauweise vorangehen wollten. Theresa Keilhacker, Präsidentin der Architektenkammer Berlin sieht große Potenziale in der Instandhaltung bestehender Gebäude. Die sei „in den letzten Jahren hinten runtergefallen“. Erst vor kurzem hat der Bundesverband Deutscher Architektinnen und Architekten dazu an Bundesbauministerin Klara Geywitz einen offenen Brief geschrieben und ein Abriss-Moratorium gefordert.
Im globalen Norden solle die ökologische Sanierung von Altbauten im Vordergrund stehen und die Aufstockung von Gebäuden, forderte auch Schellnhuber. Im globalen Süden mit einer stark wachsenden Bevölkerung müsse allerdings neuer Wohnraum gebaut werden. Wie sich nachhaltiger bauen lässt – die Frage soll auch mit dem Gemeinschaftswerk Nachhaltigkeit in den kommenden Monaten in den Vordergrund gerückt werden. Schellnhuber versprach: „Wir stehen an der Schwelle einer neuen Architekturepoche, wo wir nachhaltig bauen werden, für alle – und wir werden das in Schönheit tun.“