Mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Atomunglück im Kernkraftwerk Fukushima hat der Betreiber Tepco am 18. November mit der Bergung von Brennelementen aus dem ersten der vier schwer beschädigten Reaktorblöcke begonnen. Wie die Bergung abläuft und welche Risiken dabei auftreten können, erläutert Christoph Pistner, stellvertretender Leiter des Bereichs Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut in Darmstadt.
Warum werden die Brennelemente in den vier Unglücksreaktoren von Fukushima nun geborgen?
Christoph Pistner: Hauptpunkt ist natürlich, dass die Gebäude, insbesondere das Reaktorgebäude von Block 4, sehr stark zerstört sind. Das Gebäude von Block 4 wurde zwar von Tepco strukturell verstärkt, damit es weiteren Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen standhalten kann. Damit ist aber kein dauerhaft stabiler Zustand für die nächsten 15 bis 20 Jahre gegeben. Jeder Sturm kann auf das Reaktorgebäude einwirken und die Sicherheit beeinflussen. Wenn es sogar noch einmal zu einem schweren Erdbeben komme sollte, weiß man nicht, ob die Integrität des Gebäudes ausreichend hoch ist.
Das Unglück in Fukushima hat sich im März 2011 ereignet. Unter normalen Umständen müssen Brennstäbe aber mindestens fünf Jahre lang abkühlen, bevor sie aus einem Reaktor entfernt werden können.
Entscheidend ist die Frage, ab wann man die anfallende Zerfallswärme über den Behälter und die Umgebungsluft abführen kann. Auch kommen die Brennelemente, die jetzt aus dem Lagerbecken in Block 4 geborgen werden, zunächst wieder in ein Nasslager – das zentrale Nasslager auf dem Anlagengelände, wo sie weiter abklingen können. Dazu werden zunächst die frischen, unbestrahlten Brennelemente aus dem Lagerbecken herausgeholt und danach die schon über mehrere Jahre abgeklungenen Brennelemente.
Nach dem Zeitplan von Tepco wird es 20 bis 25 Jahre dauern, das gesamte hochradioaktive Material aus allen Reaktorblöcken zu bergen. Warum dauert das so lang?
Man muss da zunächst unterscheiden. Die Brennelemente, die auch noch in den Abklingbecken der anderen drei Reaktoren liegen, sollen innerhalb der nächsten zehn Jahre geborgen werden. Es gibt aber auch noch den geschmolzenen Brennstoff aus den eigentlichen Reaktorkernen. Der muss ebenfalls geborgen, verpackt und in ein späteres Endlager transportiert werden. Das ist technisch sehr aufwändig. Man kommt ja bis heute in weite Teile der Reaktorgebäude gar nicht hinein oder wenn dann nur für sehr, sehr kurze Zeit aufgrund der hohen Strahlung.
Dort wird der Prozess also sehr lange dauern. Man wird erst einmal die Reaktorsicherheitsbehälter untersuchen, die Gebäude dekontaminieren und die Behälter soweit mit Kühlmittel füllen, dass man sie öffnen kann. Dann kann man erkunden, wo sich der Brennstoff befindet und in welcher Form er vorliegt. Erst dann kann er geborgen und verpackt werden, und da gehen die Rechnungen in die Größenordnung von drei bis vier Jahrzehnten. Das ist denke ich auch realistisch.
Welche Risiken drohen bei der Bergung?
Man muss unterscheiden, für wen Risiken bestehen. Für die Beschäftigten vor Ort hat man bei den Brennelementen im Nasslager sozusagen den Vorteil, dass sie zumindest weitgehend noch intakt sind und sich unter einer abschirmenden Wasserschicht befinden. Grundsätzlich kann man mit geschlossenen Brennelementen umgehen, sofern sie noch intakt sind. Man hat auch Transportbehälter und ein Zwischenlager, das ist ein bekannter Prozess.
Wenn es dabei nicht zu weiteren Störfällen kommt, wird die zusätzliche Strahlenbelastung für die Arbeiter also wohl eher gering sein. Beim Kern wird das ganz anders sein. Da liegen radioaktive Stoffe offen irgendwo im Sicherheitsbehälter. Die müssen in eigens dafür konstruierte Behälter verpackt werden, das wird alles Neuland sein. Man hat Erfahrung aus Three Mile Island – dem Unfall 1979 in den USA, bei dem es auch eine partielle Kernschmelze gab und wo man ebenfalls Brennstoff geborgen hat. Aber die Situation in Fukushima ist wesentlich gravierender.
Was könnte bei neuen Naturkatastrophen wie einem Sturm, einem Erdbeben oder einer Flut passieren?
Zunächst gibt es die sehr großen Mengen kontaminierten Wassers, die auf dem Anlagengelände gelagert werden. Werden diese zerstört, könnte dies die Arbeiten auf dem Anlagengelände nochmals erheblich erschweren, da sich die Strahlenbelastung für die Arbeiter weiter verschlechtern würde. Dann könnte es sein, dass die bislang wieder aufgebauten Kühlsysteme erneut ausfallen. Das wäre wahrscheinlich noch nicht so schlimm, weil die jetzt anfallen Wärmelasten eher gering sind.
Man hätte jetzt also sehr lange Zeit, bevor sich das Kühlmittel im Brennelemente-Lagerbecken oder in den Reaktoren wieder aufheizt. Schlimmer wäre es, wenn es an den Becken zu einem Verlust der Integrität kommt, das heißt das Becken geht kaputt und das Wasser läuft aus, sodass die Brennelemente schnell trockenfallen würden. Wenn ein schweres Erdbeben das Gebäude sogar komplett einstürzen ließe, könnte man die Brennelemente nicht mehr länger kühlen.
Das Becken wäre zerstört, man käme vielleicht nicht einmal mehr an die Brennelemente heran, um sie zu bergen. Dann könnten sich die Brennelemente wieder aufheizen und es kann wieder zu den Reaktionen kommen, die man aus dem März 2011 kennt: Die Brennelemente werden so heiß, dass die Brennstabhüllrohre anfangen, mit Luftsauerstoff zu reagieren. Dabei wird noch einmal mehr Wärme frei. Es kann auch wieder Wasserstoff produziert werden und es kann wieder zu Explosionen kommen, die Radioaktivität in die Umgebung freisetzen.
Könnte es wie 2011 wieder zu einer Kernschmelze kommen?
Das ist schwierig zu beantworten da es auch sehr von den Randbedingungen abhängt. Wenn beispielsweise nur das Wasser in den Brennelementebecken ausläuft, die Becken aber ansonsten intakt bleiben und Luft an die Brennelemente strömen kann, um die Wärme abzuführen, dann kann es sein, das die Temperaturen begrenzt bleiben, und man weiter kühlen kann. Wenn aber das Gebäude zusammenfällt und die Brennelemente durch Schutt zugedeckt werden, sodass keine Luft mehr herankommt, dann können sich höhere Temperaturen einstellen. Eine Kernschmelze drei Jahre danach ist also unwahrscheinlich, man kann sie aber nicht ausschließen.
Könnte die Strahlung im schlimmsten Fall bis nach Deutschland oder zum Beispiel in die USA reichen?
Aus meiner Sicht nicht. Es gab ja schon bei den damaligen Ereignissen keine kontinentübergreifenden Auswirkungen. Man konnte zwar wegen der guten Messtechnik weltweit – auch in Deutschland – Radioaktivität aus Fukushima messen. Schon damals kam man in Deutschland aber nicht annähernd an relevante Grenzwerte heran. Obwohl die freigesetzte Energie damals größer war als bei einem künftig zu befürchtenden Ereignis, beschränkten sich die Auswirkungen auf die Umgebung der Anlage, je nach Windrichtung und Niederschlägen also einen Umkreis von etwa 20 bis 40 Kilometer.
Wegen der zögerlichen Informationspolitik von Tepco gibt es weltweit wenig Vertrauen in die Betreiberfirma. Sollten andere Unternehmen oder internationale Organisationen an den jahrzehntelangen Arbeiten in Fukushima beteiligt werden?
Ich würde auch sagen, dass Tepco nicht gerade ein Paradebeispiel für Offenheit und Kommunikationsfreude war. Japan ist insgesamt keine Gesellschaft, die sich sehr leicht tut, internationale Hilfe anzunehmen und auch einzufordern. Nach meiner Wahrnehmung beginnt sich das aber zu ändern. Die japanische Regierung hat darauf hingewiesen, dass sie bereit und auch dankbar ist, Ratschläge von internationalen Experten anzunehmen und sie stärker einzubinden, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Sie waren Ende 2012 selbst auf einer Konferenz in Tokio und haben die Präfektur Fukushima besucht. Welche Meinung hatten die Japaner, die Sie getroffen haben, von der Atomkraft?
Es war damals die Zeit der Neuwahl in Japan und mein Eindruck war, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Weiternutzung der Kernenergie sehr kritisch gegenüber steht. Das hat sich zwar in den Wahlen nicht widergespiegelt – das Reaktorunglück war auch nicht das wahlentscheidende Thema –, aber die Wahlergebnisse stehen schon in deutlichem Widerspruch zu dem, was es zu Umfragen zum Thema Kernenergie in Japan gibt und was auch meine Wahrnehmung in der Bevölkerung war.
Der jetzige Premier Shinzo Abe will an der Kernenergie festhalten. Einer seiner Vorgänger, Junichiro Koizumi, hat ihn dafür öffentlich gerügt. Glauben Sie, dass Japan mittelfristig doch aus der Kernenergie aussteigt?
Das ist im Moment schwer abzusehen. Ich denke aber, dass das Ereignis in der japanischen Bevölkerung ein ganz anderes Bewusstsein zur Kernenergie ausgelöst hat, als es bis Fukushima vorhanden war. Vorher war ja das Versprechen der absoluten Sicherheit sehr präsent und wurde auch in weiten Teilen der Bevölkerung, der Politik und der Verantwortlichen viel stärker geglaubt, als es realistisch erfüllbar ist. Das hat sich gewandelt.
Ob das zu einem kurzfristigen, vollständigen Ausstieg in Japan führen wird oder nur zu einer deutlichen Abschwächung der Rolle der Kernenergie, hängt auch davon ab, wie sich Japan wirtschaftlich und industriepolitisch aufstellt, welche Alternativen es entwickelt und wie es sich dabei international einbinden will. Die starke Rolle, die die Kernenergie in der Vergangenheit in Japan eingenommen hatte, wird sie aber nicht mehr halten können.
Das Interview führte Manuel Berkel.
Weiterführende Informationen
Aktuelle Informationen der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zu Fukushima
Bericht der GRS zum Anlagenzustand und zu den Bergungsplänen vom März 2013 [PDF, 11,6 MB]
Englischsprachige Infoseite des japanischen Wirtschaftsministeriums zu den Bergungsarbeiten
Infos des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) zum Aufbau von Siedewasserreaktoren wie in Fukushim