Herr Falkenberg, Sie haben im August Ihren Bericht „Sustainability Now!“ vorgelegt. Was ist dabei ihre wichtigste Erkenntnis?
Karl Falkenberg: Dass wir uns darauf besinnen sollten, was wir an Europa haben. Nämlich 70 Jahre Frieden, die Grundlage überhaupt für nachhaltige Entwicklung. Wir haben nur eine Chance, wenn wir Europa gemeinsam und nachhaltig stärken. Über diesen Weg kann es auch gelingen, neue Arbeitsplätze und damit Einkommen zu schaffen, um die Gesellschaft langfristig für ein vernünftiges Miteinander zu motivieren – immer im Rahmen dessen, was unser Planet für bald zehn Milliarden Menschen zu bieten hat.
Sie schlagen vor, Nachhaltigkeit als gesamteuropäischen Wert, als Marke, zu etablieren. Was soll das bringen?
Nun, wir hatten mal mit der sozialen Marktwirtschaft ein gesamteuropäisches Projekt, also einen wirtschaftspolitischen Rahmen, der Europa zusammengehalten hat. Nur ist uns das soziale daran in den Nullerjahren irgendwie abhanden gekommen. Heute sind 122 Millionen Europäer von Armut bedroht, das ist fast jeder vierte. Da braucht man sich nicht wundern, dass der Nährboden für Populisten fruchtbarer wird.
Diese Ungleichverteilung zu überwinden, betrachten Sie als Schlüssel für ein nachhaltigeres Europa?
Das geht einher mit den richtigen Antworten auf die großen Umweltfragen. Es geht darum, Arbeit und gesellschaftliches Leben vernünftig miteinander zu kombinieren. Und in der Lösung der Umweltprobleme sehe ich zum Beispiel ein hohes Beschäftigungspotenzial – gerade für jene Menschen, die vielleicht nicht top-ausgebildet sind. Bedenken Sie nur: Wenn alle 28 Mitgliedstaaten die EU-Abfallrichtlinien umsetzen würden, könnten 400.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Und wenn ich über die Chancen einer effizienten Kreislaufwirtschaft nachdenke, dann gehen Modellrechnungen sogar von über zwei Millionen Arbeitsplätzen aus. Wir brauchen gerade in einem nachhaltigen Europa wieder eine solide industrielle Wertschöpfung.
Ein Großteil davon könnte schon bald wieder nach Europa kommen, wird dann aber nicht von Menschen, sondern von Maschinen erwirtschaftet. Das dürfte die Schere zwischen Arm und Reich noch einmal weiten.
Das ist richtig, vor allem, wenn sie dieses soziale Gefälle mit einem Indikator wie dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf völlig negieren, weil eine Durchschnittsbetrachtung zum einen diesen Unterschied unter den Teppich kehrt und zum anderen nur denjenigen Einkommen zugesteht, die am Produktionsprozess teilnehmen. Plötzlich stellen viele Menschen fest, dass sie weniger haben als der Durchschnitt und das kratzt nun mal an der Glaubwürdigkeit von Politik. Da ist es nur natürlich, dass sich unter vielen das Gefühl breit macht, man rede aneinander vorbei.
Dabei messen wir nur falsch?
Ein geeigneter Leit-Indikator für wirtschaftliche Entwicklung sollte mindestens auch Naturkapital beinhalten. Darüber hinaus messen wir viele Tätigkeiten gar nicht, die wir verrichten, etwa in der Familie oder ehrenamtlich. Wenn es uns gelingt, diese anzuerkennen und messbar zu machen, lassen sie sich auch in Einkommen übersetzen. Mein Bericht soll deshalb auch die Debatte um ein Grundeinkommen, wie es in der Schweiz oder in Finnland bereits geführt wird, vorantreiben. Nicht, dass ich dafür die perfekte Lösung zu bieten hätte, aber wir sollten uns stärker damit auseinandersetzen.
Sie haben lange an ihrem Bericht gearbeitet, vor allem, um viele Institutionen und Stakeholder mit einzubeziehen. Wie gut hat das funktioniert?
Ich habe über ein Jahr an diesem Bericht gesessen und dabei mit vielen Unternehmen und NGOs gesprochen, mit Wissenschaftlern, Forschern mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Und es war leichter als gedacht, mich hat viel Zuspruch erreicht. Ich könnte jedenfalls nicht sagen, dass das Interesse unter den Mitgliedstaaten an einem nachhaltigeren Europa unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Lediglich die vorhandenen Strukturen sind verschieden. Natürlich gibt es Mitglieder, in denen noch immer 90 Prozent des Mülls in die Deponien wandert, und es gibt Mitglieder, wo das fast gar nicht mehr passiert.
Hat der Brexit Ihre Arbeit erschwert?
Das macht es auf der einen Seite nicht einfacher, weil wir ein wichtiges Mitglied verlieren. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass es für viele ein Weckruf sein könnte, der gerade zur rechten Zeit kommt. Denn auf meinen Reisen durch die 28 Mitgliedstaaten spürte ich schon, dass der Umgang heftiger wird: wenn wegen des Brexits Politiker ermordet werden, oder wenn ich mir die jüngsten Wahlergebnisse der AfD anschaue. In Ostdeutschland werde selbst ich ja schon beleidigt, nur weil ich ein belgisches Kennzeichen habe.
Welche konkreten Anstöße gibt Ihr Bericht?
Die EU sollte eine Strategie zur Umsetzung der UN-Agenda 2030 beschließen. Dabei würde es sicher nicht schaden, wenn der Europäische Rat eine Erklärung abgibt, in der die Verpflichtung auf Nachhaltigkeit als übergeordnetes politisches Ziel der Union festgeschrieben wird. Wir brauchen Nachhaltigkeits-Botschafter oder ein stärkeres Nachhaltigkeitsnetzwerk, um endlich das Silo-Denken zu überwinden. Und Eurostat sollte zu allen Nachhaltigkeitsindikatoren (SDGs) dringend Daten veröffentlichen.
Beeinflussen Sie mit diesen und anderen Forderungen die Kommissionsmitteilung, die für den Herbst angekündigt ist?
Die EU-Kommission hat in ihrem Jahresprogramm 2016 eine Initiative für eine nachhaltige Europäische Zukunft angekündigt. Und ich bin Berater der EU-Kommission. Ich würde mir also schon wünschen, dass die Kommission meine Arbeit in ihrer Herbstmitteilung aufgreift, aber auch mittelfristig bei der Finanzplanung oder bei den Agrarreformen oder beim Umbau des Finanzsystems berücksichtigt. Ich bin jedoch lange genug dabei, dass ich weiß, dass die politischen Mühlen langsam mahlen und das nicht alles in drei Wochen passieren wird.
Zur Person:
Karl Falkenberg ist langjähriger EU-Beamter, bis 2015 war er Generaldirektor in der Generaldirektion Umwelt der EU-Kommission. Vergangenen September hat ihn Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Sonderberater für nachhaltige Entwicklung beim Europäischen Zentrum für politische Strategie (EPSC) – dem internen Thinktank der Europäischen Kommission – ernannt. Juncker hat ihn damit beauftragt, diesen Sommer den Bericht „Sustainability Now!“ vorzulegen, um die nachhaltige Entwicklung in der EU voranzutreiben.
Das Interview führte Marcus Pfeil.