Auf einer wissenschaftlichen Tagung befassten sich Forscher mit der Auswirkung auch geringer Mengen radioaktiver Strahlung auf Menschen. Im Gegensatz zu bisherigen Annahmen ist die Säuglingssterblichkeit in Fukushima signifikant gestiegen.
Gerade ist der dritte Jahrestag der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima vergangen. Über die Auswirkungen der dort freigesetzten radioaktiven Strahlen gehen die Einschätzungen weit auseinander. Während die japanische Regierung nach einer Dekontaminierung wieder Orte für die Bewohner freigeben will, warnt die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) vor anhaltenden Gefahren durch radioaktive Strahlung.
„Die Regierung verharmlost die Gefahren der Strahlung“, kritisiert IPPNW-Ärztin Angelika Claußen auf Anfrage. Sie müsse deutlich stärker auf Aufklärung setzen und die Folgen der Strahlung kritisch bewerten. Als Beispiel nennt die Organisation die bislang bekannten Fälle von Schilddrüsenkrebs. Dessen Häufigkeit ist bei den bisher untersuchten Kindern von 0,3 pro 100.000 auf 13 angestiegen. „Das ist schon beängstigend“, sagt Sprecherin Angelika Wilmen.
Die Gefahren waren in der vergangenen Woche auch Thema einer Tagung, die das Zentrum Ökumene der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau gemeinsam mit IPPNW veranstaltet hat. Die Referenten kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass schon kleine Strahlendosen ausreichen, um insbesondere Kinder zu schädigen.
Der Nürnberger Wissenschaftler Alfred Körblein hat die Säuglingssterblichkeit in der Region rund um Fukushima untersucht. „Die Sterblichkeit im Jahr 2012 ist deutlich erhöht gegenüber dem Verlauf der vorangegangenen Jahre“, erläutert der Forscher. Im Monat Mai lag sie in der Spitze um 50 Prozent über dem Normalwert. Dies führt Körblein auf den Konsum kontaminierter Nahrungsmittel im Herbst 2011 zurück. Nur so sei der Befund zu erklären.
Ärzte widersprechen UN
Damit stellt sich der Physiker gegen die offizielle Einschätzung der UN-Kommission UNSCAER (United Nations Scientific Committee on the Effect of Atomic Radiation), die die Folgen des GAU in Fukushima untersucht hat. Im vergangenen Jahr legte die Kommission einen Bericht vor, demzufolge dieser keine unmittelbaren Effekte für die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung habe. Auch zukünftig rechnen die Experten der UN nicht mit erhöhten Risiken, etwa auf eine Krebserkrankung.
Auch der Kinderarzt Winfried Eisenberg hält die von offiziellen Stellen verbreitete Bewertung des Risikos einer vergleichsweise geringen Strahlenbelastung für falsch. Er beruft sich dabei auf die Ergebnisse der Studie Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK), die das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) 2007 in Auftrag gegeben hat. Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung steigt, je näher ein Kind an einem Atommeiler wohnt. In einem Radius von fünf Kilometern um einen Reaktor liegt das allgemeine Krebsrisiko 60 Prozent über dem Normalwert, das Leukämierisiko sogar um 160 Prozent darüber.
Doch die Ergebnisse wurden von den beteiligten Behörden nicht als eindeutiger Zusammenhang interpretiert. Eisenberg sieht das anders. Die besondere Empfindlichkeit von Kindern werde nicht ausreichend berücksichtigt. In der Wachstumsphase sei ihr Organismus zum Beispiel besonders sensibel.
Als weiteres Indiz für die schon bei niedriger Belastung auftretenden Veränderungen verweist Eisenberg auf die ungleiche Verteilung der Geschlechter bei Geburten in der Nähe von Kernkraftwerken. Dort werden mehr Jungen geboren. Deshalb fordert der Mediziner, beim Strahlenschutz die Schwellenwerte für Embryonen zum Maßstab für die erlaubte Belastung anzusetzen und nicht die von erwachsenen Männern. „Es gibt keinen noch so niedrigen Grenzwert, unterhalb dessen Strahlung unbedenklich wäre“, erklärt der Kinderarzt.
Katastophenschutz in Deutschland verbessert
Lerneffekte aus der Katastrophe in Japan sind dennoch auch in Deutschland erkennbar, So hat die Strahlenschutzkommission kürzlich neue Empfehlungen zum Schutz der Bevölkerung bei einer Freisetzung von Radioaktivität veröffentlicht. Kernpunkt ist eine deutliche Erweiterung der Evakuierungszonen. Die so genannte Zentralzone solle von einem Radius von zwei auf fünf Kilometer erweitert werden, rät die Kommission. In diesem Gebiet soll die Evakuierung der Bevölkerung binnen sechs Stunden erfolgen.
Daran schließt sich die Mittelzone an, die statt bisher 10 künftig 20 Kilometer rund um den Unglücksort reicht. Hier sollen Jodtabletten verteilt und eine möglicherweise notwendige Evakuierung binnen 24 Stunden vorbereitet werden. Die Versorgung mit Jodtabletten soll auch in einem weiteren Umkreis von 100 Kilometer erfolgen, damit also auch Ballungsgebiete mit vielen Einwohnern umfassen. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Bundesregierung diesen Empfehlungen der Kommission folgt.
Weiterführende Informationen
Kongress über Schädigung von Kindern bei Niedrigstrahlung
UNSCEAR-Bericht: Keine Auswirkungen auf Gesundheit in Fukushima
Studie Kinderkrebs in der Nähe von AKWs
Neue Empfehlungen der Strahlenschutzkommission in Deutschland