„Wir leben weltweit auf Kosten jüngerer und künftiger Generationen, das ist einfach die bedrückende Wahrheit.“ So drückte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Rede auf der Jahreskonferenz des RNE den derzeitigen globalen Handlungsdruck auf Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft aus. Dabei nahm sie auch das gemeinsame Positionspapier „Klimaneutralität – Optionen für eine ambitionierte Weichenstellung und Umsetzung“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und des Rates für Nachhaltige Entwicklung entgegen. Sie pflichtete damit der Dringlichkeit bei, die auch die 30 Autorinnen und Autoren des Papiers formulieren. Die 20er müssten zu einem Jahrzehnt der Nachhaltigkeit werden, sagte Merkel.
Sophia Bachmann: „Wir diskutieren, bis zu wie viel Prozent wir die Erde ausbeuten können.“
Sophia Bachmann, Deutsche Jugenddelegierte bei der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung, hatte an die Adresse der Politik deutliche Kritik: Die diskutiere über Prozentsätze oder Centbeträge bei den Spritpreisen und habe das Grundproblem noch nicht verstanden. „Anstatt, dass wir uns zusammensetzen und diskutieren, wie wir als Menschen wieder im Einklang mit der Natur und der Umwelt leben können, diskutieren wir lieber darüber, bis zu wie viel Prozent wir die Erde ausbeuten oder verschmutzen können“, sagte sie.
Das Positionspapier „Klimaneutralität“ soll Wege aus dieser Krise aufzeichnen. Konkrete Zielvorgaben für CO2-Minderungen enthält es nicht. Man wolle bewusst nicht am Wettbewerb um neue Ziele mitmachen, sagte der Ratsvorsitzende Dr. Werner Schnappauf. „Die Königsdisziplin ist die Umsetzung, da wird es konkret und schwierig. Dafür wollen wir Optionen und Bedingungen für das Gelingen aufzeigen“, sagte er während der Vorstellung des Papiers. Zwei wesentliche Pfeiler enthalte das Papier, sagte Prof. (ETHZ) Dr. Gerald H. Haug, Präsident der Leopoldina: Die Dringlichkeit, die sich aus der Erdsystem- und Klimaforschung ergebe, aber auch die enormen Chancen einer Transformation. Entscheidend seien die nächsten fünf Jahre, also die nächste Legislaturperiode in Deutschland. „Sonst sind die Pariser Klimaziele verloren“, so Haug.
Das Positionspapier definiert Klimaneutralität als Ziel, das innerhalb Deutschlands erreicht werden soll. Das bedeutet: Die Treibhausgasemissionen des Landes und die durch Senken innerhalb Deutschlands der Atmosphäre entzogenen Treibhausgase, etwa durch neue Wälder oder Moore, sollen also bilanziell bei null liegen. Emissionsgutschriften durch Zukäufe aus anderen Regionen der Welt sollen nicht berücksichtigt werden. 14 Kernbotschaften enthält das Positionspapier, aus denen einzelne Autorinnen und Autoren auf der Jahreskonferenz des RNE folgende Schwerpunkte vorstellten.
Antje Boetius: „Die Erde ist ein Organismus mit entzündeter Haut“
Die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, Prof. Dr. Antje Boetius, warnte in einer Diagnose eindringlich vor dem kritischen Zustand der Erde: Erdsystemforscher betrachteten die Erde als eine Art Organismus, auf dem alles Lebende wie eine Haut ist, so Boetius. „Eine Haut, die für Stoffwechsel und Atmung zuständig ist, wo man sich nicht aussuche kann, ob man sie pflegt oder nicht. Diese Haut, sie ist entzündet, sie trocknet aus, sie verbrennt“, warnte die Meeresbiologin. Angesichts dessen sei es sehr optimistisch, lediglich von einer „Herausforderung“ zu sprechen. Das Positionspapier warnt beispielsweise davor, dass Permafrostböden in der Arktis zunehmend tauen. Sie speichern doppelt so viel Kohlenstoff wie aktuell in der Atmosphäre vorhanden ist und könnten den Klimawandel irreversibel verstärken.
Imme Scholz: „Internationale Kooperationen sind zentral für Klimaschutz“
Die Industrieländer verursachen den Klimawandel, Entwicklungsländer haben die schwersten Folgen zu tragen. Der Klimawandel erzwinge deshalb einen globalen Ausgleich von Schäden und Verlusten, sagte Prof. Dr. Imme Scholz, stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik und stellvertretende Vorsitzende des RNE. Sowohl Kosten als auch Chancen des Umbaus müssten gerecht verteilt werden. „Internationale Kooperationen sind zentral für Klimaschutz und Klimaneutralität und deshalb steht das auch ganz vorn in unserem Papier“, sagte Scholz. Die EU setze auf Klimadiplomatie, aber nötig sei mehr, nämlich echte Kooperationen. Die Klimaziele müssten auch durch Handelsverträge umgesetzt werden. „Deutschland und die EU sollten globale Allianzen vorantreiben“, so Scholz.
Heidemarie Wieczorek-Zeul: „Globale Solidarität finanzieren“
„Alle wohlklingenden Texte und Beschlüsse, auch die des European Green Deal, bleiben Makulatur, wenn die globale Solidarität nicht auch finanziert wird“, ergänzte Heidemarie Wieczorek-Zeul, ehemalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und RNE-Mitglied. Entwicklungsländer könnten das Kapital zur ökologischen Transformation und dem Wiederaufbau nach Corona allein nicht aufbringen. Sie fordere deshalb weitreichende Budgethilfen. Der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) beschlossene Schuldenerlass für 25 der ärmsten Länder weltweit und das von den G20-Staaten und dem Pariser Club beschlossene Schuldenmoratorium reiche deshalb nicht aus. Auch China und private Gläubiger müssten sich daran beteiligen. Bundesregierung, Weltbank und IWF müssten den Ländern finanziell dabei helfen, stabile soziale Sicherungssysteme aufzubauen, auch in der Gesundheit.
Ottmar Edenhofer: „Europäischer Emissionshandel ist das Fundament“
Welchen Ordnungsrahmen muss die Politik setzen, damit sich die richtigen Technologien auf dem Weg zur Klimaneutralität durchsetzen? Als Beispiele nannte Prof. Dr. Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, erneuerbare Energien, Wasserstofftechnologien, synthetische Kraftstoffe oder, in den kommenden Jahrzehnten, auch Technologien, die CO2 aus der Atmosphäre ziehen. Bisher sei der nötige Ordnungsrahmen auf europäischer Ebene noch Stückwerk, sagte Edenhofer: „Wir haben den europäischen Emissionshandel, das ist ein Fundament, auf dem wir aufbauen können.“ Für die Sektoren Verkehr, Wärme, Gebäude und Landwirtschaft gebe es diesen Rahmen aber noch nicht. Edenhofer plädierte für eine faire und sozial gerechte Lastenteilung, nicht nur zwischen den EU-Staaten, sondern auch zwischen einkommensschwachen und einkommensstarken Haushalten.
Christoph Schmidt: „Kein Sektor kann sich der Transformation entziehen“
Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, erläuterte, wie die dazu nötige CO2-Bepreisung aussehen könnte. So viel Markt wie möglich, aber auch so viel Regulierung wie nötig sei dabei die Grundposition. „Es kommt auf das europäische Gesamtergebnis an, nicht darauf, was in einzelnen Sektoren genau passiert. Aber kein Sektor kann sich der Transformation entziehen.“ Es brauche deshalb einen einheitlichen Preis für CO2 und einen verlässlichen Preispfad. Jeder Akteur müsse wissen, dass der Preis für CO2 nicht sinken, sondern allenfalls steigen wird. Die EU arbeitet derzeit an einem neuen Paket an Gesetzen, um das Ziel erreichen zu können, bis 2030 55 Prozent weniger CO2 zu emittieren als 1990. „Fit for 55“ heißt es. In diesem Rahmen müsse der Emissionshandel auf andere Sektoren wie Gebäude, Verkehr und Wärme erweitert werden, sagte Schmidt.
Sabine Schlacke: „Mit der Anpassung der Klimaschutz-Instrumente nicht auf die EU warten“
Die Bundesregierung hat im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Minderungsziele Deutschlands für 2030 auf 65 Prozent angehoben, für das Jahr 2045 wird Klimaneutralität angestrebt. Jetzt müssten die Ziele operabel gemacht werden, sagte Prof. Dr. Sabine Schlacke, Co-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen.
Sie sieht dazu drei Punkte: Erstens, die vorhandenen Programme des Bundes, das Klimaschutzprogramm 2030, der Integrierte Nationale Energie- und Klimaplan und der Klimaschutzplan 2050 müssten angepasst werden und dürften sich vor allem nicht widersprechen. Zweitens, vorhandene Förderinstrument müssen angepasst werden. Also die für Erneuerbare Energien, die Anreize bei Energieeffizienz, die CO2-Grenzwerte für die Kfz-Flotte und die CO2-Bepreisungen für den Energiesektor, die Industrie, den Verkehrs- und Gebäudebereich. Wichtig vor allem: Man dürfe nicht warten, bis die EU ihr Recht an die neuen Ziele angepasst habe. „Wir brauchen jetzt, nach der Bundestagswahl, eine Anpassung. Wir können nicht warten, bis „Fit For 55″ in Kraft tritt. Das wird erst in eineinhalb bis zwei Jahren der Fall sein“, sagte Schlacke. Drittens forderte sie, das Fachplanungsrecht für Behörden anzupassen, um benötigte Infrastruktur für die Transformation schneller realisieren zu können.
Gunda Röstel: „Die Kernaufgabe ist die Dekarbonisierung des Energiesystems“
Grundlage für Klimaneutralität seien Erneuerbare Energien in einem Mix aus Millionen kleiner Solaranlagen und auch großen Anlagen wie Offshore-Windparks. Dazu müsse auch die Versorgungsstruktur mit Energie entsprechend umgebaut werden, sagte Gunda Röstel, Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden GmbH und RNE-Mitglied. Das sei aber verkoppelt mit allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, wie das Heizen von Häusern, Antriebssysteme für Mobilität oder industrielle Grundstoffproduktion, Stichwort Sektorkopplung. Dabei seien auch Akzeptanzprobleme zu lösen.
Robert Schlögl: „Sektorkopplung ist ein fundamentales Problem“
Das Positionspapier fordert an mehreren Stellen eine sogenannte Sektorkopplung. Klassisches Beispiel ist etwa, einen temporären Überschuss an erneuerbarem Strom in Wasserstoff umzuwandeln und damit später zu heizen oder Fahrzeuge anzutreiben. Dies ist zwar technologisch möglich, es fehlt bislang aber an einer Skalierung. „Was wir derzeit nicht können ist, die Sektorenkopplung durchzuführen. Das ist ein fundamentales Problem, da ist noch viel zu tun“, sagte Prof. Dr. Robert Schlögl, Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemische Energiekonversion. Das Drängendste sei: „Es geht um Systemeffizienz, nicht um die Prozesseffizienz.“ Das heißt, dass eine einzelne Maßnahme vielleicht nicht optimal in Sachen CO2-Einsparung ist, aber das gesamte Energie- und Wirtschaftssystem insgesamt dabei weiterbringt. Als Beispiel nannte er, Erdgas auf dem Weg weg von der Kohle als Zwischenlösung zu verwenden, bis Wasserstoff ausreichend zur Verfügung steht. Die wesentliche Aufgabe für das Gelingen einer echten Transformation jedoch sei, einen Weltmarkt für Erneuerbare Energien zu schaffen.
Saori Dubourg: „Die Industrie braucht auch Incentivierung“
Voraussetzungen und bereits vorhandene Technologien für eine klimaneutrale Transformation seien in den verschiedenen Sektoren sehr unterschiedlich. Darauf verwies Saori Dubourg, Vorstandsmitglied der BASF SE und RNE-Mitglied. „Wir brauchen nicht nur Marktregulierung, sondern auch Incentivierung, um diese Transformierung zu schaffen“, sagte sie. Allein bis 2030 müssten die Hälfte aller Industrieanlagen in einigen Branchen umgestellt werden. Durch den European Green Deal kämen 250 neue Regularien der EU mit einem signifikanten Einfluss auf die Industrie. Aber das führe auch zu neuen Innovationsmärkten, die gestaltet werden müssten, damit Deutschland internationale Wettbewerbsvorteile erzielen könne. Als Beispiel nannte Dubourg Recyclingtechnologien, biologisch abbaubare Verpackungen oder Sharing-Modelle.
Alexander Bassen: „Stranded Assets verhindern“
Prof. Dr. Alexander Bassen, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und RNE-Mitglied, rechnete vor: Bis 2030 muss das Volumen an Erneuerbaren Energien vervierfacht werden, damit die Industrie ihre Klimaziele erreichen kann. Auch hier handelt es sich um eine Sektorkopplung. Ein „enormes Investitionsvolumen“ sei das in einem sehr kurzen Zeitfenster. Deshalb brauche die Industrie jetzt die Planungssicherheit und die richtigen Rahmenbedingungen. So könne auch verhindert werden, dass Stranded Assets entstehen. Investitionen in Technologien also, die bis 2030 oder 2040 nicht mehr im Rahmen der Energiewende genutzt werden können.
Elke Weber: Klimafreundliche Entscheidungen haben eine starke sozial Komponente“
Klimaneutralität ist mehr als Technologie, Gesetzgebung und Finanzierung. Prof. Dr. Elke Weber, Professor of Psychology and Public Affairs an der Princeton University in den USA sprach von einer notwendigen stärkeren Einbindung der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften. „Klimafreundliche Entscheidungen und Verhaltensweisen haben eine starke sozial Komponente“, sagte sie. Es gehe dabei um kritische Diskussionen und auch darum, Unsicherheiten mit anderen zu teilen. „Studien zeigen, dass Investitionen in entsprechend Technologien auch durch emotionale und rollenbasierte Faktoren befördert werden“, sagte sie.
Eine Kommunikation, die beim Klimaschutz individuelle Kosten-Nutzen-Überlegungen in den Vordergrund stelle, führe deutlich seltener zu umweltfreundlichen Entscheidungen. Deshalb müssten Förderprogramme viele Anreize schaffen, um Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure und innovative Gründer zu einem aktiven Klimaschutz zu befähigen. „Das Wissen über besehende Hindernisse und Lösungen für notwendige Veränderungen existiert auf lokaler Ebene“, sagte Weber.
Hubert Weiger: „Das Recht einräumen, selbst Strom zu erzeugen, zu speichern, zu verbrauchen und zu handeln“
Entsprechend appellierte Prof. Dr. Hubert Weiger, Ehrenvorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland und RNE-Mitglied, Bürgerenergie in Deutschland zu stärken. Kommunen sollten Klimaschutz als kommunale Daseinsvorsorge verbindlich verankern und entsprechend mehr Mittel bekommen. Weiger verwies dabei auf die neue Erneuerbare-Energien-Richtlinie der EU, die von einer Revolution spreche: „Sie verpflichtetet die EU-Mitgliedsstaaten, Einzelpersonen und Gemeinden in Form von Bürgerenergiegemeinschaften das Recht einzuräumen, selbst Strom zu erzeugen, zu speichern, zu verbrauchen und zu handeln.“ Das sei die Voraussetzung, dass die Energiewende zu einem großen Gemeinschaftswerk werde. Deshalb müsse die Bundesregierung Bürgerenergie dringend stärker als bisher fördern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach am Ende ihrer Rede, das Positionspapier werde in der Bundesregierung Beachtung finden. Sie dankte dem Rat für viele „überzeugende Vorschläge“ während ihrer Amtszeit.