Entwicklungszusammenarbeit und Finanzierung nachhaltiger Entwicklung stagnieren, mehr Ungleichheit wird weltweit sichtbar. Die Corona-Pandemie hat das Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele deutlich zurückgeworfen. Wie kann der Wiederaufbau gelingen und was muss die Weltgemeinschaft gemeinsam leisten? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Denkfabriken und Entwicklungsorganisationen bei der digitalen Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) am 8. Juni. Dabei wird klar: es handelt sich um eine doppelte Krise. Die Krise der wachsenden Finanzierungslücke und der negativen Pandemiefolgen, sowie ihrer Wechselwirkung aufeinander.
„Die Pandemie hat die soziale und globale Ungleichheit, die bereits vorher existierte sichtbar gemacht und noch verschärft“, sagte Cornelia Füllkrug-Weitzel, RNE-Mitglied und ehemalige Präsidentin der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die gestiegene Zahl hungernder Menschen weltweit, die reduzierten Einkommensmöglichkeiten für große Teile der Bevölkerung, bedingt durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Und: Eine Reihe von Staaten stünden kurz vor der Staatspleite, so Füllkrug-Weitzel. Große Anstrengungen müssten nun in die Verteilung von Impfstoffen und in eine gemeinwohlorientierte Gesundheitsversorgung fließen.
Finanzierung für den Wiederaufbau stockt
Ein großes Problem ist die Finanzierung der Pandemiebewältigung. Für Christoph Benn, Direktor für Global Health Diplomacy am Joep Lange Institut, „klaffen hier noch riesige Lücken“. „Keiner weiß, woher die Mittel kommen sollen“, so Benn. Er plädierte in der Diskussionsrunde für verlässliche Zuwendungen an internationale Organisationen insbesondere aus den Staatshaushalten, aber auch für mehr Mittel aus dem Privatsektor. Alle Länder müssten ihren Beitrag zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele leisten, nicht nur die G7, sondern auch Brasilien, China oder Indien.
Ähnlich äußerte sich Ilona Kickbusch, Leiterin Global Health Programm an der IHEID-Hochschule Genf: „Wir haben als Welt gemeinsam versagt.“ Sie plädierte für einen globalen Vertrag, der Gesundheit einschließt. Kickbusch begrüßte den Einsatz des Europäischen Rates für einen solche Pandemievertrag. Allerdings hätten die USA und auch Russland bereits klargemacht, dass sie sich nicht auf den Weg zu einem rechtsverbindlichen Vertrag machen wollen. Im Kern geht es Kickbusch, um gemeinsame Mechanismen, die die Überwachung von Pandemiewarnsystemen beinhalten, oder auch einen „Automatismus“ für Forschung und Impfstoffentwicklung, der in Gang kommt, wenn es zu einem weiteren Pandemiefall kommt.
Die Weltgemeinschaft muss auf Pandemien besser vorbereitet sein
Denn alle Expert*innen sind sich einig: Covid-19 werden weitere Pandemien folgen und die Weltgemeinschaft muss auf solche Katastrophen besser vorbereitet sein, um nachhaltige Entwicklung zu sichern. Doch Jürgen Zattler, Abteilungsleiter Internationale Entwicklungspolitik, Agenda 2030 und Klima im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), ist nur verhalten optimistisch. Wenn man jetzt sage, man mobilisiere Finanzierung und dann habe man Entwicklung, reiche dies nicht aus. Zattler verwies einerseits auf nationale Mechanismen, wie etwa Investitionen im sozialen Bereich, aber auch auf internationale Regelwerke, wie etwa die Besteuerung von Großunternehmen. Man müsse auf die politischen Rahmenbedingungen schauen, aber auch auf die Möglichkeiten multilateraler Institutionen wie die Weltbank oder den IWF. „Wir arbeiten gemeinsam an Problemen, die für die Welt von Bedeutung sind“, sagte Zattler.
Die Bewältigung der Pandemie betrifft arme und reiche Staaten auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auf diesen Aspekt wies Guido Schmidt-Traub, Entwicklungsexperte und Partner bei SYSTEMIQ, in seinem Beitrag hin. Während reichere Staaten mit einer zusätzlichen Belastung von rund zwei Prozent rechnen müssten, handele es sich bei ärmeren Ländern mit einer Belastung von bis zu 30 Prozent. Der Fokus müsse auf der Entwicklungsfinanzierung liegen, insbesondere auch mit Blick auf die Klimaschutzziele. „Wenn wir Covid-19 nicht in den Griff bekommen, dann ist es schwer zu sehen, wie wir in den nächsten Jahren konstruktiv an der Klimaherausforderung sitzen können“, so Schmidt-Traub.
Entwicklungspolitik soll Chefsache werden
„Wir haben festgestellt, dass diese Krise eine wahnsinnige Herausforderung für politisches Handeln ist“, fasste die Moderatorin der Runde, Heidemarie Wieczorek-Zeul, das Podium zusammen. Schnelles politisches Handeln und dringend notwendige Investitionen müssten nun folgen, sagte die ehemalige Bundesentwicklungsministerin, die heute Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung ist.
Große Hoffnung liegt nun auf der neuen Bundesregierung, die am 26. September gewählt wird. Sie müsse dafür sorgen, dass unterschiedliche globale Krisen nicht gegeneinander ausgespielt werden, so Entwicklungsexpertin Ilona Kickbusch. RNE-Mitglied Füllkrug-Weitzel sprach sich für ein zeitweises Aussetzen der Impfpatente aus und appellierte insbesondere an die Unternehmen in Deutschland, die Impfstoffe hergestellt hatten. Ein Knackpunkt bleibt die Finanzierung: Die müsse die neue Bundesregierung zur Chefsache machen, einerseits in der eigenen Haushalts- und Finanzpolitik, aber auch auf internationaler Ebene.
Nach der Veröffentlichung am 22.09.2021 haben den Appell außerdem unterzeichnet:
Oberbürgermeister Michael Ebling, Mainz
Oberbürgermeister Wolfgang Griesert, Osnabrück
Oberbürgermeister Burkhard Jung, Leipzig
Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen, Aachen
Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder, Norderstedt
Oberbürgermeisterin Eva Weber, Augsburg