Noch rund 10 Jahre hat die Weltgemeinschaft Zeit, die Sustainable Development Goals (kurz SDGs, also die globalen Nachhaltigkeitsziele) umzusetzen. Fortschritte gibt es auf etlichen Ebenen, doch die Corona-Pandemie bremst viele Ansätze aus. Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft diskutierten bei einem Online-Forum des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) über „Mehr internationale Verantwortung, Kooperation und Solidarität für nachhaltige Entwicklung“. Es ging um den Stand der globalen Nachhaltigkeitsdiskussion, um die Rolle Deutschlands in diesem Prozess und um Finanzierungsmechanismen. Knapp 100 Teilnehmende waren bei der digitalen Diskussionsrunde dabei.
Als sich im September 2019 die Staatengemeinschaft beim SDG-Gipfel in New York trifft, wird klar: das transformative Potential der Agenda 2030 soll und muss beschleunigt werden, da etliche der 17 Ziele drohen, nicht erreicht zu werden. Die Staatenvertreterinnen und -vertreter einigten sich auf eine sogenannte „Decade of Action and Delivery“. Wie groß der Bedarf an mehr Anstrengungen ist, zeigte der ebenfalls 2019 erschienene Weltnachhaltigkeitsbericht. Darin skizzieren 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Defizite zum Beispiel beim Thema Biodiversität und Klimaschutz. „Wir betreiben Raubbau an der Artenvielfalt“, sagt Wolfgang Lutz, Forschungsdirektor Demographieforschung am IIASA und Co-Herausgeber des globalen Weltnachhaltigkeitsberichts. „Das hat verheerende Folgen.“
Aber auch beim Thema Bildung und Gesundheitsversorgung hinkt die Staatengemeinschaft hinterher. Dabei wirken sich positive Entwicklungen in diesen Bereichen immens auf das Erreichen anderer VN-Nachhaltigkeitsziele aus. „Es braucht ein Bewusstsein für eine nachhaltige Transformation“, sagt Lutz. „Das gilt sowohl für die Politik, für die Wirtschaft, die Wissenschaft aber auch die Zivilgesellschaft.“ Er plädiert dafür, dass wirtschaftliche und politische Interessen Fortschritte nicht blockieren.
Krisen sind global und wirken global
Auch Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung, sieht Probleme in dieser Haltung. „Die meisten Krisen sind global: auch wenn sie bei uns nicht so spürbar sind, wirken sie sich global aus.“ Sie plädiert dafür, sich nicht nur auf die negativen Konsequenzen einer nachhaltigeren Lebensweise zu fokussieren, sondern Lebensgewinne im Blick zu haben, wenn man Wirtschafts- und Konsumstile ändere.
Ein Beispiel, um Produktionsmechanismen zu durchbrechen, wäre das Lieferkettengesetz. Es soll Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen, damit sich Arbeitsbedingungen in Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich verbessern. Auch der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat sich für ein solches Gesetz ausgesprochen. Derzeit streitet die Regierungskoalition um die genaue Ausrichtung eines Gesetzesentwurfs.
In vielen ärmeren Staaten sind es vor allem Frauen, die in Fabriken arbeiten und unter unsozialen und umweltschädlichen Arbeitsbedingungen leiden. Für Lisi Maier, Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings und ebenfalls Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung, spielt Geschlechtergerechtigkeit in den Lieferketten eine große Rolle. „Es fehlt noch immer an einer geschlechtergerechten Analyse der globalen Krisen“, sagt Maier.
Nachhaltigkeitsstrategie: Deutschland muss handeln
Was für die internationale Ebene gilt, muss auch national wirken. Vor fünf Jahren sind die VN-Nachhaltigkeitsziele verabschiedet worden. Man habe sich auf Ziele geeinigt, aber nicht darauf, wie sie erreicht werden können, sagt Marianne Beisheim, Senior Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Auch Deutschland müsse jetzt liefern.
Im Juli 2021 wird die Bundesregierung ihren freiwilligen Bericht zu nachhaltiger Entwicklung in New York der Weltgemeinschaft vorstellen. Die Berichterstattung bei den Vereinten Nationen über Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 ist freiwillig und ohne Formatvorgaben. Teil der Präsentation werden sowohl Fortschritte als auch Probleme sein und die entsprechenden Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Beisheim plädiert dafür, nicht nur von Ankündigungen zu berichten, sondern von Taten. So könnten Fortschritte beim Lieferkettengesetz auch für die internationale Staatengemeinschaft interessant sein, ebenso das Maßnahmenpaket der Bundesregierung zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie.
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat bereits im Mai 2020 in einer Stellungnahme angemahnt, dass Deutschland die SDGs nicht erreichen wird. „Vor allem an der Schnittstelle zwischen Umwelt- und Agrarpolitik oder zwischen Klima- und Energiepolitik“, sagt Imme Scholz, stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und stellvertretende Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Insgesamt stehe Nachhaltigkeitspolitik nicht deutlich genug im Kern politischen Handelns, sowohl in Deutschland als auch international.
Finanzierungslücke wird größer
Die Umsetzung der VN-Nachhaltigkeitsagenda und die Bewältigung der Corona-Krise stellen die Staatengemeinschaft vor enorme Herausforderungen, vor allem finanziell. „Wir schlittern auf eine neue Schuldenkrise zu“, sagt Oliver Schwank von UN DESA (Department for Economic and Social Affairs Financing). Zwar steige das Interesse privater Investoren an nachhaltigem Wirtschaften, aber es gebe erhebliche Finanzierungslücken in der Entwicklungszusammenarbeit. Corona habe diese Lücke zwischen getätigten und benötigten Investitionen zur Umsetzung der SDGs vergrößert, betont Schwank.
„Die Nachhaltigkeitsziele und die Entwicklungsfinanzierung gehören zusammen. Man muss die Prozesse zusammenbringen“, betont Heidemarie Wieczorek-Zeul, ehemalige Bundesentwicklungsministerin und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung. Die Bundesregierung sollte sich in diesem Zusammenhang für einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder einsetzen. Sie plädiert für mehr Ehrlichkeit bei den Anforderungen zur Umsetzung einzelner Ziele in den Entwicklungsländern.
Verantwortung zu übernehmen für die Auswirkungen unseres Handelns in anderen Regionen der Welt, sei immer noch nicht ambitioniert genug, darin sind sich alle Diskutanten und Teilnehmenden einig. Die Verantwortung dürfe nicht länger auf nachfolgende Generationen verschoben werden. Mehr Verantwortung für die Auswirkungen unseres Handelns und Konsums in der Welt müsse jetzt und mit Nachdruck durch die Bundesregierung und auch auf europäischer Ebene erfolgen.
Stehen wir also vor einem Rückschlag für eine nachhaltige Entwicklung, vor allem mit Blick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie? Man müsse solidarisch vorangehen, um schnell eine Lösung zu finden, sagt Wissenschaftlerin Beisheim. Und zivilgesellschaftliches Engagement wird immer wichtiger. „Ohne eine aktive Zivilgesellschaft sind die Nachhaltigkeitsziele nicht zu erreichen“, so Ratsmitglied Füllkrug-Weitzel. Ob wir die Krise als Chance begreifen, und aus der virtuellen Vernetzung und Kreativität auch langfristige Solidarität innerhalb und zwischen Staaten erwächst, muss die Zeit noch zeigen.