Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) hat ein Empfehlungspapier mit dem schönen Titel „It‘s the politics, stupid – Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für nachhaltige Lebenswelten“ veröffentlicht, das Sie federführend mit verfasst haben. Darin geht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt – beziehungsweise darum, wie die bereits entstehende Spaltung der Gesellschaft aufgehalten und vielleicht sogar geheilt werden kann. Warum hat sich der RNE dieses Thema als einen von drei Arbeitsschwerpunkten gesetzt?
Kai Niebert: Weil wir ein Umdenken brauchen. Für uns ist die Transformation, in der wir uns derzeit befinden, alles andere als nur eine technische, eine industrielle Transformation. Wir sagen: Es braucht mehr als nur eine klimaneutrale Industrie. Wir müssen die Gesellschaft auf diesem Weg in sich verändernde Lebenswelten mitnehmen. Und wir müssen uns als Menschen selbst ändern, wenn das irgendwie klappen soll mit der Klimaneutralität. Darum, wie wir uns ändern können, geht es in unseren Empfehlungen – und zwar so, dass dieser Veränderungsprozess mehr Empowerment für Bürgerinnen und Bürger bedeuten, nicht weniger. Der RNE hat ja den Auftrag, die Regierung zu beraten. Deswegen richten sich unsere Empfehlungen in erster Linie an sie: Wir wollen dem Kanzler Argumente liefern, warum es zu kurz gegriffen ist, sich nur auf die Industrie zu fokussieren. Und wir wollen zeigen, dass es möglich ist Bürger*innen von Objekten zu Subjekten der Transformation zu machen …
… was konkret heißt?
Die Lage ist scheinbar paradox: Laut Umfragen wollen fast 90 Prozent der Bürger*innen eine zügige Transformation in die Klimaneutralität. Gleichzeitig wächst der Widerstand auf den Straßen. Schaut man dann genauer hin, zeigen sich Unzufriedenheiten besonders dort, wo Bürger*innen das Gefühl haben, der Veränderung ohnmächtig ausgesetzt zu sein und nicht selber gestalten zu können. Dem Versprechen „Wir machen die Transformation, und für euch wird sich nichts ändern“ glauben die Menschen nicht mehr. Zu Recht, denn es ist auch nicht einzuhalten. Wir schlagen deshalb vor, Bürger*innen zu Akteur*innen der Nachhaltigkeit zu machen. Das kann beispielsweise heißen, dass die Regierung ihnen nicht von oben herab Wärmepumpen und Solarzellen verordnet, sondern Rahmenbedingungen setzt, die die Motivation steigern, selbst eine Wärmepumpe oder ein Solardach haben zu wollen.
Und das funktioniert wie?
In einem Satz ausgedrückt: Wir brauchen dazu mehr Politik und weniger Moralisierung. Aktuell wird meist mit moralischen Belehrungen oder mit Vorwürfen – wie „Dein Schnitzel tötet!“ oder „Wie kannst du nur fliegen?“ – an das richtige Verhalten des Individuums appelliert. Das sehen wir interessanterweise auch in Studien zur Klimabildung: Die Schuld für die Klimakrise wird sozialisiert, aber die Verantwortung für die Lösung wird individualisiert, wird dem Einzelnen zugeschrieben.
Warum ist das falsch?
Weil es erstens nicht funktioniert und zweitens die Spaltung der Gesellschaft befördert. Die wissenschaftliche Evidenz an dieser Stelle ist klar: Private Handlungen für mehr Klimaschutz haben kaum eine Wirkung, und Appelle in diese Richtung noch weniger. Was wir brauchen, sind gemeinsame, politische Handlungen im Kleinen wie im Großen. Und wenn ich dann noch mit Moral komme und mit meinem Fahrrad in der einen und meinem Veggie-Schnitzel in der anderen Hand mit dem Zeigefinger auf meinen Kollegen mit seiner Currywurst und seinem Diesel-Golf zeige, wird ganz schnell aus der Klimadebatte eine Moraldebatte, in der am Ende nur alle verlieren. Mit diesem moralinsauren Ansatz bringe ich mein Gegenüber nur gegen mich und gegen das eigentlich geteilte Anliegen zum Klimaschutz auf.
Machen individuelle Verhaltensänderungen wirklich kaum einen Unterschied?
So hart die Botschaft auch ist: Individuelle Konsumentscheidungen machen keinen Unterschied für Klima und Umwelt – auch wenn sich der Einzelne dadurch besser fühlt. Was einen Unterschied macht, sind wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entscheidungen, die Konsumentscheidungen in nachhaltigere Bahnen zu lenken vermögen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben einmal in einem Naturfreundehaus für Klassenreisen das vegetarische Mittagessen zum Standard gemacht. Natürlich konnte für einen geringen Aufpreis das Schnitzel hinzu gebucht werden – machte aber kaum jemand. Im Kleinen wie im Großen können Sie so einen Unterschied machen.
Das heißt, Sie wollen die Rahmenbedingungen so verändern, dass sich die Nachfrage verändert?
Ja. Denn es geht natürlich – aber eben nicht nur – darum, die Wirtschaft darauf zu trimmen, nachhaltige Waren zu produzieren, sondern ebenso darum, für die Bürger*innen die richtigen Anreize zu setzen, um Nachhaltigkeit nachfragen zu können. Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, um Nachhaltigkeit von einem Anschwimmen gegen den Strom zum Massensport zu machen.
Wie schaut denn eine solche ganzheitliche Lösung aus?
Wir brauchen weniger Wertedebatten und mehr nachhaltige Infrastrukturen – Infrastrukturen, die es mir ermöglichen, ein gutes, gelingendes, gerechtes Leben zu führen. Das heißt: Der Staat muss Leitplanken setzen, innerhalb derer sich die Menschen nachhaltiger verhalten können, innerhalb derer es attraktiv ist, sich nachhaltig zu verhalten – aber innerhalb derer man sich natürlich auch anders verhalten darf, wenn man das möchte. Finanzielle Instrumente, wie ein CO2-Preis, der nach und nach klimaschädliche Verhaltensweisen teurer macht, ist ein Weg. Aber es muss und darf nicht der einzige sein. Wenn der heutige fossile Standard teurer wird, brauche ich bezahlbare nachhaltige Alternativen. Ich brauche zum Beispiel vernünftige Mobilitätsangebote, sodass ich tatsächlich auch sicher, pünktlich und günstig mit dem ÖPNV von A nach B komme. Oder eine Mehrwertsteuer, die klimafreundliche pflanzliche Produkte wie Hafermilch nicht höher besteuert als tierische Produkte wie Kuhmilch.
Ist das nicht auch manipulativ?
Auch wenn ich persönlich einen klaren Rahmen von Ge- und Verboten als befreiend empfinde, weil ich nicht dauernd im Zwang stehe, mich gegen die klimaschädliche Alternative entscheiden zu müssen, sehe ich, dass es bestimmte Milieus gibt, die sich davon bevormundet fühlen. Wir schlagen deshalb einen Mix aus Ordnungspolitik, Bepreisung, Förderung und eben auch einem sanften Lenken vor. Ein solches „Nudging“ in Richtung Klimaneutralität, der wir uns ja nicht nur völkerrechtlich verpflichtet haben, sondern die auch gesellschaftlich gewollt ist. Es geht darum, Anreize für ein bestimmtes Verhalten zu schaffen. Ich kann doch weiterhin den Diesel-SUV nehmen, um von A nach B zu fahren, oder das Schnitzel bestellen, das etwas weiter unten auf der Speisekarte steht. Im Moment ist es allerdings so: Wir belohnen und bevorzugen klimaschädigendes Verhalten. Fleisch ist Standard, Auto ist Standard, Fliegen ist Standard. Und es geht darum, genau diese Baseline zu verändern. Ist die Baseline Fleisch mit irgendeiner Beilage oder ist die Baseline die nachhaltige Option? Wenn wir die Baseline ändern, dann verbieten wir ja nicht, sondern wir bieten an.
Ich kenne Menschen, die sich davon bereits bevormundet fühlen würden.
Ich auch, sogar in meiner Familie. Mein Bruder ist Heizungsmonteur, er hat eine Heizungsbaufirma in Hannover. Als die Diskussion um die Wärmepumpe lief, da sagte er erst mal: Die Leute haben Angst, sie rennen mir die Bude ein, ich baue denen jetzt Gas- und Ölheizungen ein. Wir hätten wir uns deswegen fast überworfen. Und eine Weile später sagt er dann: Ich habe das mal durchgerechnet und mir selber nun eine Wärmepumpe in den Keller eingebaut. Die Gasheizung, die läuft jetzt nur noch zwei Tage im Jahr. Das ist genau die Flexibilität, die wir brauchen: Nachhaltigkeit ist nicht schwarz oder weiß. Es gibt Übergänge, und die müssen wir den Menschen anbieten und ermöglichen. Da spielt die richtige Kommunikation sicher eine große Rolle, damit hätte auch beim Gebäudeenergiegesetz einiges anders laufen können.
… wie denn?
Erstens hätte man besser vorbereitet sein müssen. Als die Hetzkampagnen losgingen, dass „Oma Erna 150.000 Euro investieren muss, weil der Habeck ihr die Heizung rausreisst“, waren selbst die Wohlmeinenden nicht sprachfähig. Heute weiß man: Selbst in einem schlecht sanierten Haus lohnt sich der Austausch der Ölheizung gegen die Wärmepumpe. Außerdem hätte man deutlich machen sollen, dass man den Menschen etwas geben und nicht etwas nehmen will: Wenn der Wirtschaftsminister sich erst mal hingestellt und gesagt hätte: „Leute, wir haben ein Problem. Wir haben viel zu wenig Gas. Die CO2-Preise steigen. Die Heizkosten gehen durch die Decke. Und deine Heizung zu Hause ist abhängig von der Willkür der Gaslieferung von Autokraten.“ – dann wäre die Wärmepumpe die Lösung und nicht das Problem gewesen. Die Wärmepumpe als Freiheitspumpe. Genau das wollen wir in unseren Empfehlungen zeigen: Gut gemachte Nachhaltigkeit ist Freiheit: Freiheit von fossilen Infrastrukturen, von ungesunden Lebensweisen, von Abhängigkeit.
It‘s the politics, stupid – Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für nachhaltige Lebenswelten
Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung; Berlin, 21.03.2024