Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist laut Bundesregierung die soziale Frage der nächsten Jahre. Berlin will in den nächsten drei Jahren für den Bau von 1,5 Millionen Wohnungen sorgen und fünf Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau stecken. So weit, so bekannt. Nur: Entstehen dabei auch lebenswerte, sozial ausgewogene und ökologische Stadtteile?
Das war das große Thema auf der Jahrestagung von RENN.nord in Hannover, den Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien für Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Der niedersächsische Minister für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz, Olaf Lies (SPD), warnte eindringlich vor Schnellschüssen: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, aus der Hektik der Situation heraus – wir haben dringenden Wohnungsbedarf – wieder die Augen zu verschließen vor den Zukunftsfolgen, wenn wir heute nicht breit denken.“
Was macht lebenswerte Quartiere aus? Das war die Leitfrage der Veranstaltung mit Vertretern aus Verwaltung, Politik, Verbänden und Zivilgesellschaft, die Lies eröffnete. Warnend blickte er in die 70er-Jahre zurück, als Wohnblöcke entstanden, von denen einige heute schon wieder abgerissen werden – weil sie nicht ins Umfeld eingebunden seien, keine soziale Durchmischung ermöglichten und keine Entwicklungschance mehr für Städte böten, so Lies. Es brauche heute bei der Planung von Quartieren einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem Leben, Wohnen, Arbeiten, Energieversorgung und Mobilität zusammen gedacht werden.
Und da laufe bereits heute einiges in die falsche Richtung: Als Beispiel nannte der Minister die Stellplatzverordnungen in Deutschland, die bei Neubauten vorschreibt, eine bestimmte Menge an Parkplätzen mit anzulegen – in Großstädten angesichts neuer Mobilitätskonzepte wie Carsharing kaum mehr zeitgemäß. Künftig brauche es im Mittelpunkt eines Quartiers Möglichkeiten, Carsharing-Fahrzeuge zu nutzen und wieder abzustellen. Auch beim Thema Energie müsse größer gedacht werden: „Wir überlegen, wie wir in einer Wohnung oder in einem Haus Energie sparen können, aber lasst uns doch im Quartier überlegen, wie ein kluges Konzept zur Wärmeversorgung aussieht“, sagte Olaf Lies.
Hamburg und Bremen zeigen, wie es geht
Wie Quartiere nachhaltig entwickelt werden können, das zeigten die Referentinnen und Referenten auf der Tagung. Michael Glotz-Richter etwa, Referent für nachhaltige Mobilität beim Bremer Senator für Umwelt, erläuterte, wie die Stadt mit dem Projekt Sunrise das Quartier Alte Neustadt fahrradfreundlicher macht und Raum für Carsharing schafft. Wolfgang Dickhaut, Professor an der HCU Hamburg, zeigte, wie sich Hamburg mit dem Projekt Kliq auf den Klimawandel vorbereitet: Er und sein Team erarbeiten Ratgeber für Kommunen, wie sich dicht bebaute Stadtteile – in Hamburg etwa St. Georg – gegen extreme Hitze wappnen können oder vor Überflutungen wegen häufiger vorkommender Starkregen schützen können.
Das Quartier solle also Ausgangspunkt der Überlegungen sein, aber was genau ist das eigentlich, ein Quartier? Das definierte Olaf Schnur, wissenschaftlicher Leiter und Bereichsmanager im Bereich Forschung und Beratung beim Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung. „Quartier“ sei heute ein Buzzword, ein Schlagwort, das inflationär verwendet werde, so Schnur. Gerade die Immobilienwirtschaft bezeichne hochpreisige Neubauprojekte gern als „Quartier“.
Schnur forderte einen Perspektivenwechsel, weg von der rein ökonomischen Betrachtung von Wohnraum. Er rekurrierte auf den indischen Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen und dessen Capability Approach, bei dem es um Verwirklichungschancen und Freiheiten des Einzelnen geht – auf ein Quartier heruntergebrochen heißt das: Welche sozialen Chancen etwa beim Zugang zu Bildung, welche politischen Freiheiten durch Teilhabe haben dort einzelne? Es gehe um Zugänge zum Arbeitsmarkt, um ökologische Sicherheit wie etwa den Schutz vor Emissionen und natürlich auch um die Verfügbarkeit von Wohnraum.
„Ein Quartier an sich ist eigentlich eine soziale Konstruktion und kein Ding, das wir hinstellen können“, sagte Schnur. Als ein Beispiel von Faktoren, die weit über Infrastruktur oder Wohnungsbau hinausgehen, nannte er das Miteinander in einem Quartier, das durch Symbole oder bedeutungsvolle Orte entstehe – etwa ein Mehrgenerationenhaus, eine Brücke, ein Park oder der Spätkauf, der zum Treffpunkt wird. Ein Fazit von Schnur ist, dass die Entwicklung von Quartieren konsequent partizipativ sein muss, also eine Co-Produktion zwischen den üblichen Stakeholdern und den Bewohnerinnen und Bewohnern. Die wichtigste Frage sei: „Wer gestaltet und für wen?“
Nutzen von Bürgerbeteiligungen
Doch was kann Partizipation leisten und wie funktioniert sie praktisch? Ruth Drügemöller von der Klimaschutz- und Energieagentur Niedersachsen, einem Partner von RENN.nord, warnte vor zu großen Erwartungen: „Wie Modethemen das so an sich haben, hat das Instrument Bürgerbeteiligung seine Tücken und Fallstricke“, sagte sie – auch wenn man es natürlich brauche. Sie nannte unter anderem das Problem, dass sozial Benachteiligte oft bei Bürgerbeteiligungen nicht mitmachten oder auch Mütter und Väter aus zeitlichen Gründen ausgeschlossen seien. Beteiligungen brauchten Ressourcen, Zeit und Geld, und da sei besonders bei komplexen Verfahren der Aufwand für Bürgerinnen und Bürger sehr hoch. Am Ende sei mehr Mitbestimmung auch nicht zwangsläufig ein Maßstab für mehr Qualität eines Vorhabens.
Lothar Nolte, Geschäftsführer der Klimaschutz- und Energieagentur Niedersachsen, verwies auf Fehler der Vergangenheit, gerade bei der Energiewende seien in Sachen Partizipation zu viele Erwartungen geweckt worden. „Wichtig ist, dass man die Leute früh informiert, wo die Grenzen der eigenen Legitimation liegen“, sagte er. Das treffe allerdings nur zu, wenn es um Flughafenerweiterungen, Stromtrassen oder Bahnhöfe gehe, erwiderte Henning Austmann. Er ist Professor an der Hochschule Hannover und Gründer der „Ideenwerkstatt Dorfzukunft“ , ein „loser Zusammenschluss“ engagierter Bürgerinnen und Bürger in den niedersächsischen Dörfern Flegessen, Hasperde und Klein Süntel. „Die Leute werden bei uns eingeladen zu träumen und zu spinnen und eben nicht in den Grenzen der Legitimation zu denken“, sagte Austmann.
Sein vielfach ausgezeichnetes Projekt hat das Leben in den drei Ortschaften umgekrempelt, entstanden sind – partizipativ und gemeinschaftlich – in den letzten Jahren etwa eine eigene Zeitung, ein Dorfladen, eine Film- und Theater-AG, eine Dorfhochschule, eine Webseite, eine gemeinwohlorientierte Immobilienvermittlung, ein Dorfkino und vieles mehr.
Hamburg Mitte Altona wird umgestaltet
Ähnliche Beteiligungen versucht das Projekt Q8 Sozialraumentwicklung in Quartieren. Dabei entwickeln Bewohnerinnen und Bewohner, Unternehmen und Institutionen zusammen ihre Stadtviertel – beispielsweise den Hamburger Stadtteil Mitte Altona, der durch Diskussionen in einem gemeinsamen Forum inklusiv und barrierefrei für alle werden soll. „Was in diesem Forum besonders war: Vertreterinnen und Vertreter der Politik und Verwaltung waren dabei und haben gezeigt, wo Grenzen sind und wie man gemeinsam Lösungen finden konnte“, sagt Lea Gies von Q8. Beteiligung sei „wahnsinnig aufwändig“, aber eben auch geprägt durch „Leute, die stark und nicht kleinzukriegen sind“.
Für Wolfgang Schuster, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und ehemaliger Oberbürgermeister von Stuttgart, sind Quartiere gefühlter Ort der Geborgenheit, des Vertrauten und des Verstandenwerdens. „Je globaler und komplexer unser Leben wird, je mehr viele das Gefühl der Fremdbestimmtheit haben, desto größer ist die Renaissance der Nahwelt“, sagte Schuster. Gerade jetzt, wo Rechtspopulisten versuchten, den Begriff Heimat zu vereinnahmen, sei das wichtig: „Für mich ist die Frage, ob wir nicht den abstrakten Begriff der Nachhaltigkeit mit dem emotionalen Begriff der Heimat verbinden können“, sagte Schuster. Er beantwortete damit die Frage, was ein lebenswertes Quartier ausmacht, mit einem Gedanken, den wohl jeder nachvollziehen kann. Es geht um weit mehr als um Wohnraum: Um das Schaffen von Heimat.