Es ist Halbzeit für die 2015 in New York beschlossene Agenda 2030. Wir haben noch sieben Jahre, um die darin festgelegten 17 Sustainable Development Goals (SDGs), die nachhaltigen Entwicklungsziele, zu erreichen, auf die sich alle 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einstimmig geeinigt haben. Das Kernziel der Agenda 2030 klingt simpel. Es zu erreichen, erfordert dennoch einen enormen Kraftaufwand der Weltgemeinschaft: „Ein würdiges Leben innerhalb der planetaren Grenzen für alle Menschen“.
Ernüchternde Bestandsaufnahme
Aktuell sieht es beim Erreichen der Ziele „nicht gut aus“, stellt Imme Scholz, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE), fest. Scholz ist Ko-Vorsitzende der Gruppe unabhängiger Wissenschaftlerinnen, die im Auftrag der Vereinten Nationen den Weltnachhaltigkeitsbericht (Global Sustainable Development Report, GSDR) verfassen. Alle vier Jahre bewerten die Expertinnen den Fortschritt bei der Umsetzung.
Das Fazit ist beunruhigend. Denn schlecht sieht es schon beim ersten Nachhaltigkeitsziel „Armut beenden“ aus. Die Wissenschaftler*innen erwarten, dass zusätzlich zwischen 75 und 95 Millionen Menschen in extreme Armut abrutschen. UNO-Generalsekretär António Guterres betont, dass die teils über Jahrzehnte erreichten Entwicklungsfortschritte wegen der Covid-19-Pandemie nicht nur stagnieren, sondern sogar herbe Rückschläge erlitten haben. Bei lediglich zwölf Prozent der gemessenen SDG-Indikatoren ist die Weltgemeinschaft demnach auf Kurs.
Doch „auch unabhängig von der Corona-Pandemie und ihren Folgen sind die globalen Herausforderungen für die Wirtschafts-, Sozial- und Ökosysteme derzeit präsenter als je zuvor“, heißt es im freiwilligen Staatenbericht Deutschlands. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Situation noch verschärft, was sich besonders am zweiten Nachhaltigkeitsziel, den „Hunger beenden“, ablesen lässt, da sowohl die Ukraine als auch Russland bedeutende Exporteure für Nahrungsmittel, Dünger und Energie sind.
Angesichts dieser ernüchternden Bestandsaufnahme, drängt sich die Frage auf, wie wir in der Zeit, die noch bleibt, die Ziele der Agenda 2030 erfüllen können? Die Antworten darauf soll der im September in New York stattfindende SDG-Gipfel der Vereinten Nationen (SDG Summit) geben, bei dem die Staats- und Regierungschefs eine Erklärung beschließen werden. Zur Vorbereitung des Gipfels dient u.a. das High-level Political Forum (HLPF), das Hochrangige Politische Forum zu Nachhaltiger Entwicklung im Juli in New York, bei dem die Minister*innen die politische Erklärung vorbereiten und 40 Staaten ihre Fortschrittsberichte vorlegen werden. Unter dem sperrigen Titel „Beschleunigung der Erholung von Corona (COVID-19) und der vollständigen Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung auf allen Ebenen“ werden Maßnahmen und Erfolgsbeispiele vorgestellt, die uns im Turbogang den gesetzten Zielen näherbringen.
Deutsche Positionen für New York
Die deutschen Positionen für das HLPF wurden am 9. Mai auf der deutschen Konferenz zur Agenda 2030 erarbeitet. Bei dem Treffen trugen Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) und Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) gemeinsam mit Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, sowie des Bundestags und der Bundes- und Landesministerien Ideen für eine beschleunigte und ambitionierte Umsetzung der Agenda 2030 zusammen. „Beim Tempo müssen wir besser werden“, so das Fazit von Lemke, für die außerdem der richtige Umgang mit Wasser einer der Schlüssel zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele ist.
Im Juli will das HLPF die Fortschritte beim Nachhaltigkeitsziel 6, Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen, überprüfen. Im Fokus des diesjährigen HLPF stehen außerdem leistbare und saubere Energie (SDG 7), Industrie, Innovation und Infrastruktur (SDG 9), nachhaltige Städte und Gemeinden (SDG 11) und globale Partnerschaften für die Ziele (SDG 17). Um Rosinenpickerei zu vermeiden, ist in der Agenda 2030 festgelegt, dass die 17 Ziele unteilbar sind. Daraus folgt auch die Empfehlung im letzten Weltnachhaltigkeitsbericht von 2019, dass Regierungen den Schlüsselpolitiken Vorrang geben sollen, die Fortschritte in mehreren Themenfeldern gleichzeitig bewirken.
„Der wichtigste Hebel ist, verstärkt auf Frauen zu setzen“, so Bundesentwicklungsministerin Schulze, die aus diesem Grund die feministische Entwicklungspolitik weiter ausbauen will. Ein weiterer zentraler Hebel „sind soziale Sicherungsnetze, die Ungleichheiten reduzieren und Gesellschaften insgesamt voranbringen und krisenfester machen.“ Schulze will außerdem die Reform der Weltbank weiter vorantreiben. Diese müsse eine echte Transformationsbank werden, die neben der Bekämpfung von Hunger und Armut auch Lösungen für den Schutz von Klima und Natur vorantreibt.
Reform der internationalen Finanzinstitutionen
Hintergrund für diese Reform ist die Bridgetown-Initiative, die Mia Amor Mottley, Premierministerin von Barbados angestoßen hat. Angesichts der sich stetig vergrößernden Finanzierungslücke für nachhaltige Entwicklung weltweit fordert die Initiative eine Reform der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF), um Kapital stärker als bisher für Klima und Nachhaltigkeit einzusetzen und zu hebeln. Ziel der Bridgetown-Initiative ist es, die Schuldenspirale zu stoppen, in die Entwicklungsländer immer wieder geraten werden, wenn sie wegen Naturkatastrophen gezwungen sind, Geld zu leihen. Während reiche Länder Kredite zu niedrigen Zinssätzen zwischen einem und vier Prozent erhalten, beträgt der Zinssatz für ärmere Länder aufgrund des Risikos rund 14 Prozent (Stand 2023). Diese von den USA und Europa dominierten Institutionen entstanden am Ende des Zweiten Weltkriegs und seien nicht mehr zeitgemäß. „Bei den Zuschüssen und stark verbilligten Krediten für Niedrigeinkommensländer darf es keine Abstriche geben. Die ärmsten Länder müssen die Gewinner der Reform sein“, so die Position Deutschlands bei der Weltbank, vertreten durch den Parlamentarischen Staatssekretär Niels Annen (SPD).
Doch die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 sind im Unterschied zu ihren Vorgängern, den Millennium Development Goals, kein Programm, das nur die sogenannten Entwicklungsländer im Fokus hat. „Die reichen Länder haben jetzt beides gleichzeitig zu schultern: Die Transformation im eigenen Land und die Unterstützung für andere“, drückt es Imme Scholz aus. Nicht nur finanzielle Hilfen seien dafür notwendig, so Scholz, sondern auch die Vermeidung von Importen aus Entwicklungsländern, die dort die Umwelt belasten und die Armut vergrößern. Ein Umbau der Landwirtschaft in der EU und das Lieferkettengesetz böten dafür gute Ansätze. Nach dem SDG-Gipfel im September steht im Bundeskanzleramt die Überarbeitung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie an. Eine Chance hier nachzuziehen.
„In diesem kritischen Moment, stehen wir vor dem Abgrund“, heißt es drastisch im Fortschrittsbericht für die Nachhaltigkeitsziele des UNO-Generalsekretärs António Guterres. Um die Ziele dennoch zu erreichen oder zumindest wesentlich voranzubringen, müssen die Staaten ihre Anstrengungen deutlich erhöhen, um nennenswerte Fortschritte für die Menschen und den Planeten zu erreichen. Kurz gesagt, es wird Zeit für die Staatengemeinschaft, den Turbogang einzulegen.