Herr Lorenz, wann wird der Arbeitsmarkt 4.0 Realität – eher 2020 oder 2050?
Philippe Lorenz: Die Digitalisierung der Wirtschaft hat bereits in den 1980er Jahren mit der Aufstellung der Geldautomaten in den Banken begonnen. Die Bankangestellten mussten sich fortan nicht mehr um den Geldwechsel kümmern, wurden von einfachen Routinearbeiten befreit. Für die USA gibt es dazu exakte Zahlen. Wurden dort zuvor im Schnitt 20 Leute in einer Bankfiliale gebraucht, waren es danach nur noch 13. Die einzelne Filiale wurde rentabler, so dass die Firmen weitere eröffneten und dort neue Leute einstellten.
Fördert der digitale Wandel also das globale UN-Nachhaltigkeitsziel 8: Gute Arbeit und Ökonomisches Wachstum?
Das kommt auf den Beruf an, auch auf die Unternehmen. Der nordamerikanische Telekommunikationskonzern AT&T schrieb beim Aufbau des Telefonnetzes in den USA Geschichte. Als er erkannte, dass die Digitalisierung und Amazon oder Netflix mit ihren Internetstreamingdiensten seine traditionelle Technologie überflüssig machen, investierte er in das Wissen seiner Belegschaft. Anstatt sie rauszuschmeißen, bildete er von seinen rund 240.000 Mitarbeitern rund 80.000 aus, die sich mit der neuen Technik nicht auskannten. Sie haben dazu mit der Online-Lernplattform Udacity zusammen gearbeitet, die maßgeschneiderte Kurse für den digitalen Arbeitsmarkt anbietet.
Das ist ein Einzelfall?
Die Telekom ahmt das nach. Die großen DAX-Konzerne, die genug Ressourcen haben, analysieren den Arbeitsmarkt und die künftigen Anforderungen. Im Mittelstand ist das anders. In kleineren Firmen gibt es selten jemanden, der sich ausschließlich darum kümmert, wie sich die Berufe verändern.
Wie viele Jobs gehen verloren?
Wissenschaftler der Universität von Oxford behaupten, in den nächsten Jahren werden 47 Prozent der Arbeitsplätze verschwinden. Sie haben dazu gut 700 Berufsbilder der USA analysiert. Dabei sind sie jedoch davon ausgegangen, dass sich ein Job nicht ändern kann, nicht dynamisch ist. So ist das aber nicht. Mitarbeiter in Pressestellen müssen heute zum Beispiel auch Twitter oder Facebook bedienen. Aufgaben fallen weg, andere kommen hinzu.
Es gibt keine Verlierer?
Das Mannheimer Forschungsinstitut ZEW hat im Auftrag von Arbeitsministerin Andrea Nahles die Studie aus Oxford auf Deutschland übertragen. Demnach sind nur 12 Prozent der Jobs in Gefahr. Die historische Erfahrung zeigt, dass sich nach einem Anpassungsschock immer neue Perspektiven ergeben. Der Hufschmied wird nicht mehr gebraucht, der KFZ-Mechaniker aber schon.
Diese technologische Revolution ist anders?
Der technologische Sprung ist natürlich besonders, weil nicht nur Arbeit per Hand durch Robotik ersetzt wird, sondern auch kognitive Fähigkeit durch künstliche Intelligenz. Zum Beispiel kann der Computer in der Lage sein, aus den medizinischen Untersuchungen die genaue Diagnose zu erstellen. Das hat aber sein Gutes. Das entlastet den Arzt. Er kann sich mehr Zeit für die Behandlung nehmen.
Was macht der Arbeiter in der Autofabrik?
Die Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe werden schon seit den 70er Jahren weniger, sie machen heute noch 24 Prozent aus. Durch die Automatisierung werden noch einmal 1,5 Millionen verschwinden. Aber es werden an anderen Orten neue entstehen. Die Arbeiter müssen sich weiter bilden, auch umsatteln. In der Pflege werden zum Beispiel unheimlich viele Leute gesucht. Das Problem ist allerdings, dass dort weniger gezahlt wird als in der Industrie.
Sie muten den 40- bis 50-Jährigen zu viel zu?
Nein, ich rate nur, nicht in Panik zu verfallen. Aber Sie müssen gucken, wie sich die eigene Tätigkeit verändert. Im Grunde kann mittlerweile jeder die Steuererklärung elektronisch mit ELSTER abwickeln. Darum stirbt aber nicht der Beruf der Steuerberater, sie müssen sich nun aber auf komplexere Aufgaben konzentrieren, ihr Angebot ändern.
Was müssen Kinder in der Schule lernen, damit sie in ihren Jobs später bestehen können?
Die Schulen müssen mit Breitband für schnelles Internet und funktionierenden Computersystem ausgestattet sein, damit alle Kinder, egal welcher Herkunft, mit der neuen Technik in Kontakt kommen. Und sie müssen Kernkompetenzen lernen wie soziale und kreative Kompetenz oder Empathie. Das sollte sich auch bis ins universitäre System durchsetzen. Dann hat der Mensch einen Vorteil vor Maschinen.
Welche Ausbildungen müssen angeboten, welche fallen gelassen werden?
In der Schweiz durchlaufen Sie, wenn Sie in den Einzelhandel einsteigen, zwei Jahre eine generelle Ausbildung, dann erst spezialisieren Sie sich. Aber selbst die Spezialisierung ist dann noch nicht so extrem wie in Deutschland, wo Sie sich von Beginn an entscheiden, ob Sie etwa Online- oder Lebensmittelhändler werden. Arbeitnehmer mit dieser engen Ausbildung kommen natürlich unter Druck, wenn sich ihr Beruf ändert.
Der Stress nimmt mit der Digitalisierung zu?
Nicht unbedingt. Wir beobachten keine Zunahme von befristeten Verträgen. Als belastend findet mancher aber die Erreichbarkeit rund um die Uhr etwa durch E-Mails. Die Gewerkschaften steuern derzeit mit Erfolg dagegen. Bei VW und anderen Firmen können Sie nach Feierabend mittlerweile keine E-Mails mehr lesen.
Bringt die Digitalisierung der Arbeitswelt denn einen gesellschaftspolitischen Fortschritt hin zur nachhaltigen Entwicklung?
Das hängt von der Branche ab. Lagerarbeitern etwa beim Internethändler Amazon gibt der Computer einen straffen Takt vor, wann er welche Ware aus dem Regal zu holen hat. Das kann die psychologische Belastung erhöhen. In der modernen Automobilfabrik erübrigen sich indes teils unergonomische Zwangshaltungen, wenn der Roboter zum Beispiel den Innenausbau einer Karosserie übernimmt. Und in der öffentlichen Verwaltung ist es denkbar, dass Mitarbeiter von routinemäßigen Arbeiten befreit werden, so dass sie Zeit gewinnen für Aufgaben, die etwa die städtische Entwicklung voranbringen.
Wo muss die Politik genau eingreifen?
Der technologische Wandel selbst ist nicht steuerbar. Sie können fördern, dass sich die Bürger weiter qualifizieren. Wenn statt Menschen Roboter arbeiten, geht dem Staat aber vor allem Einkommensteuer verloren. Darum müssen wir umdenken, etwa die Besteuerung von Unternehmensgewinnen erhöhen und die Pflege, in der viele Menschen benötigt werden, entlasten. Auch die Entlohnung wird sich ändern müssen, wenn in der neuen Arbeitswelt die digitale Dividende nicht nur von wenigen abgeschöpft werden soll. In den USA sind Aktienbeteiligungen der Belegschaft schon heute üblicher.
Das Interview führte Hanna Gersmann.