Eine Studie des Umweltbundesamtes belegt eine wachsende Automüdigkeit der Bundesbürger. Über die Gründe dafür und den Umbau des Verkehrssystems sprach News Nachhaltigkeit mit Dirk Flege, Geschäftsführer des Verbands Allianz pro Schiene. Er fordert ein Mautsystem, das Gebühren abhängig von Entfernung und ökologischer Wirkungen berechnet.
Noch nie waren auf den Straßen in Deutschland so viele Autos unterwegs. Zugleich beklagen 82 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Automüdigkeit. Ist dieses Ergebnis nicht unrealistisch?
Dirk Flege: Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Vor zehn, zwanzig Jahren war der Autobesitz noch ein verbreiteter Wunsch. Nun ist er verwirklicht, und es zeigen sich die Schattenseiten der Motorisierung. Vor allem in Ballungszentren wird der Autoverkehr als Belastung empfunden. Es ist ein bisschen wie zum Jahreswechsel. Man nimmt sich vor, das Übergewicht wieder abzuspecken. Doch das ist schwieriger als gedacht.
Beschränkt sich die Automüdigkeit auf Städte?
Ganz genau wissen wir es nicht. Die Studie des Umweltbundesamtes basiert auf einer bundesweiten Umfrage. Doch in Städten mit einem guten Verkehrsangebot ist die Autonutzung rückläufig. In den Städten gibt es mehr Alternativen wie Car-Sharing, Busse und Bahnen oder das Fahrrad. Wenn es in ländlichen Gebieten ein gutes Angebot gibt, wird verstärkt von Park-and-Ride-Angeboten Gebrauch gemacht. Das ist ein klares Indiz für Automüdigkeit, vor allem aber für mehr Pragmatismus bei der Verkehrsmittelwahl.
Sie fordern einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der Bahnverbindungen. Wie sollte ein ideales Netz aussehen und wie kann es finanziert werden?
Das ideale Netz ist da, wo die Menschen wohnen. Das ist in Deutschland nicht immer der Fall, weil das Netz, aber auch die Städte, historisch gewachsen sind. Deshalb müssen Strecken gezielt ausgebaut werden. Wir wären hier gut beraten, etwas bei der Schweiz abzuschauen. Dort werden die Bürger bei der Planung viel stärker eingebunden. Wir brauchen auch mehr Geld für den Erhalt. Sonst verlottert ein großes Volksvermögen. Generell müssen wir bei der Straße verstärkt auf eine Nutzerfinanzierung umsteigen. Mit der Maut, die eine Infrastrukturabgabe für Pkw ist, schafft der Bund ein neues, aber nicht nachhaltiges Instrument. Statt einer Einmalzahlung per Vignette benötigen wir ein System, das entfernungsabhängige und ökoabhängige Gebühren erhebt. Erst wenn wir eine intelligente und gerechte Bemautung für alle haben, lässt sich die Benutzung besser steuern.
Der Bund steht bei den Regionalisierungsmitteln derzeit auf der Bremse, weil deren Höhe offenkundig zur Manövriermasse in den Bund-Länder-Finanzverhandlungen geworden ist. Hat dies konkrete Folgen für das Verkehrsangebot?
Die schlimmste Auswirkung ist, dass die Bundesländer keine vernünftigen Angebotsausweitungen mehr auf den Weg bringen können, weil die Finanzierung der späteren Leistungen ungewiss ist. Sie können nichts planen. Und mittlerweile befassen sich viele Beamte mit Vorschlägen zur Einschränkung des Verkehrsangebotes. Das ist eine unfassbare Verschwendung von Arbeitszeit und Kreativität, zumal die Bahnen Jahr für Jahr neue Fahrgastrekorde verzeichnen. Der Bund vernachlässigt hier sträflich seine Hausaufgaben. Das ist das Gegenteil von dem, was die Menschen wollen.
Die Umweltverbände fordern eine weitgehend autofreie Zukunft. Gibt es einen realistischen Weg zu diesem Ziel und mit welchen Instrumenten kann dies erreicht werden?
Zentraler Hebel ist die Kostenwahrheit im Verkehr. Wenn dieses Prinzip einmal wirkt, brechen andere Zeiten an. Dazu gehören zum Beispiel die Unfall- und Umweltkosten, die bisher außen vor bleiben. Zum Umsteuern gehört auch eine veränderte Stadt- und Raumplanung. Jahrzehntelang richtete sich diese am Autoverkehr aus. Entscheidend ist, dass die Menschen eine Alternative zum Auto haben. Dann steigen sie auch um. Doch eine gänzlich autofreie Zukunft wird es wohl nicht geben. Und die Minimierung ist ein Jahrzehnteziel.
Die Automobilindustrie ist die Kernbranche der deutschen Wirtschaft. Welche ökonomischen Folgen wären bei einer Abkehr von der Automobilität zu erwarten?
Sicher ist das eine Kernbranche. Doch Angst ist kein guter Ratgeber. Es gibt überall immer schnellere Innovationszyklen. Auch die Mobilität verändert sich durch Smartphones und Tablets. Die Frage ist, wie die Automobilindustrie darauf reagiert. Sie ist gut beraten, sich dem Wandel zu stellen und sich zum Beispiel auf die Share-Economy einzurichten. Der große Trend ist die Vernetzung der Verkehrsträger. Damit erhält das Auto eine neue Rolle. Wenn die Industrie diese Entwicklung vorantreibt, wird sie neue Wettbewerbsvorteile entdecken. Insofern ist die Abkehr von der Autofixierung sogar standortfreundlich.
Ist aus Ihrer Sicht Mobilität ein Grundrecht?
Es ist ein Grundbedürfnis. Doch Mobilität ist nicht gleich Verkehr. Es geht darum, weniger Verkehr ohne Verlust der Mobilität zu erreichen, zum Beispiel, indem die Wege zwischen Arbeitsplatz und Wohnort verringert und mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen werden. So wird das Bedürfnis erfüllt, zugleich aber Verkehr verringert.
Verteuert der von Umweltverbänden präferierte Umbau des Verkehrssystems Mobilität?
Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Volkswirtschaftlich wird es günstiger. Für die, die ihr individuelles Verkehrsverhalten nicht ändern, kann es teurer werden. Auf der anderen Seite profitieren viele Menschen davon, weil zum Beispiel die Krankenkassenbeiträge sinken können, weil die Unfallkosten massiv zurückgehen.
Kennen die Nutzer von Mobilitätsangeboten die Kosten ihres Mobilitätsangebotes? Wie können diese vermittelt werden?
Ich glaube nicht, dass die Nutzer die Kosten in Gänze kennen. Laut ADAC ist der öffentliche Verkehr bei einer Vollkostenrechnung deutlich billiger als das eigene Auto. Doch viele Autofahrer sehen nur die Benzinkosten, nicht aber die der Anschaffung oder für Reparaturen und was sonst noch so anfällt. Die Menschen werden rationaler entscheiden, wenn sie vom Autobesitz wegkommen und dann die realen Kosten verschiedener Angebot miteinander vergleichen.
Sind die neuen Mobilitätsangebote wie Fernbusse, Mitfahrgelegenheiten oder Billigangebote der Bahn schon die Antwort auf eine neue Mobilitätszukunft?
Nein, neue Angebote alleine reichen nicht aus. Denn der Vernetzungsgedanke spielt bislang nur eine untergeordnete Rolle, obwohl das der wesentliche Trend der Zukunft ist. Auch ist die Stadt- und Raumplanung zu wenig in die Weiterentwicklung der Angebote eingebunden. Es bleibt also noch viel zu tun.
Das Interview führte Wolfgang Mulke.
Weiterführende Informationen
Studie zum Umweltbewusstsein in Deutschland, Umweltbundesamt