Die digitale Gesellschaft hat ein „ungeheures Potenzial“ sich zu verständigen, wie die Menschen künftig leben wollen, sagt Friedrich Hagedorn, der Leiter des Referats Medienbildung im Grimme-Institut ist. Doch er warnt vor einer „informativen Reizüberflutung“ und rät, sich Regeln für die Mediennutzung zu geben.
Herr Hagedorn, die Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen hat über die Internetseite handysektor.de dazu aufgerufen, in der Fastenzeit auf digitale Medien zu verzichten. Betreibt die digitale Gesellschaft, die immer online ist, Raubbau an sich selbst?
Friedrich Hagedorn: Nicht nur. So war es etwa früher großen und finanzstarken Anbietern vorbehalten, Öffentlichkeit herzustellen. Heute können sich auch kleinere Initiativen zu Wort melden. Jeder kann bei Onlinepetitionen und Kampagnen mitmachen. Das Internet bietet ein ungeheures Potenzial sich am Diskurs zu beteiligen, wie wir künftig leben und eine nachhaltige Entwicklung voranbringen wollen. Tatsächlich ist die Nutzung digitaler Medien aber zugleich mit einem großen Ressourcenverbrauch verbunden.
…das Umweltbundesamt schätzt, dass der Stromverbrauch des Internets in Deutschland schon heute einen CO2-Ausstoß wie der Flugverkehr verursacht Meinen Sie das?
Es entstehen Treibhausgase oder auch Berge von Elektroschrott. Für mich ist aber entscheidender, dass Internetnutzer auf ihre eigenen immateriellen Ressourcen achten und sie nicht übernutzen.
Das heißt?
Die Informationsflut ist enorm. Die Unterhaltungsindustrie setzt zudem eine große Ablenkungsmaschinerie in Gang. Die Gefahr ist eine informative Reizüberflutung oder auch Überlastung. , in der die Mediennutzung der Zwölf- bis 19-Jährigen untersucht wurde, hat gezeigt, dass sich selbst Jugendliche schon überfordert fühlen. Immer mehr Leuten fällt es offenbar schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Wie verteilt jemand Aufmerksamkeit, wenn er permanent im digitalen Austausch steht und alles „gelikt“ werden kann?
Der Mensch folgt bestimmten Wellen und Konventionen. Wenn Facebook, wenn Whatsapp und andere Plattformen angesagt sind, dann entsteht ein Druck daran teilzuhaben. Denn sonst ist man automatisch ausgeschlossen. Das gilt für die Mehrheit, auch wenn es Gruppen gibt, die bewusst nicht mitmachen.
Was hat sich grundsätzlich bei der Kommunikation in den letzten Jahren verändert?
Vor allem Jüngere tauschen sich in sozialen Netzwerken aus, schicken Fotos aus dem Urlaub aufs Handy, sie treffen Verabredungen per Kurznachricht. Absprachen sind kurzfristig, werden immer wieder umgeschmissen. Selbst das Telefonieren wird zweitrangig. So entsteht ein ständiger medialer Kommunikationsfluss. Das heißt zugleich, dass die Abhängigkeit vom Handy zunimmt für alle, die soziale Kontakte pflegen wollen.
Was heißt das für das Familienleben?
Einerseits bekommen Kinder sehr früh Kontakt zu einer nicht kontrollierbaren Außenwelt, die sie möglicherweise überfordert mit Bildern und Ereignissen. Andererseits steigen die Möglichkeiten der Eltern, ihre Kinder zu kontrollieren und per Kurznachricht nachzufragen, wo sie sind, wann sie nach Hause kommen oder ob die Hausaufgaben fertig sind.
In der Arbeitswelt nimmt die Kontrolle auch zu, zumindest sind Mitarbeiter vermeintlich permanent erreichbar – wie wirkt sich das aus?
Arbeitszeit und Freizeit sind nicht mehr getrennt. Eben noch die E-Mails-Checken kann manchen überfordern. Da gibt es aber bereits die Gegenbewegung des digitalen Arbeitsschutzes. Große Unternehmen wie Siemens oder Volkswagen haben Regeln eingeführt, dass der mobilen Erreichbarkeit nach Dienstschluss Grenzen gesetzt werden.
Wie lassen sich digitale Medien begrenzen, ohne dass man das Gefühl hat, etwas zu verpassen?
Ein Beispiel: Ich habe Studenten gefragt, was sie mit ihren Handys in den Seminaren machen. Ihre Antwort war, dass sie froh seien, wenn ein Professor eine klare Ansage macht und Handys für Tabu erklärt. Denn dann fiele es ihnen leichter, sich daran zu halten, als wenn sie sich selbst kontrollieren müssten. Unternehmen, Familien, Freunde sollten eigene Regeln zur Mediennutzung aufstellen, damit diese nicht nur aus eigener Disziplin erfolgen müssen.
Gehört ein Handy zum guten Leben dazu?
Heutzutage auf jeden Fall. Ich halte aber viel von der Erhaltung kommunikativer Artenvielfalt. Wir sollten uns nicht nur auf technologische Medien verlassen, sondern auch auf das Gespräch miteinander.
Weiterführende Informationen
Friedrich Hagedorn, Grimme-Institut
Stromverbrauch des Internets, Studie des Umweltbundesamtes [pdf, 1,0 MB]
JIM Studie 2014 zur Mediennutzung der Zwölf- bis 19-Jährigen