Es will einfach nicht klappen, mit der Wende im Verkehr: 1990 emittierte der Sektor in Deutschland 163 Millionen Tonnen CO2 oder äquivalente Klimagase. 2019, das Jahr vor der Pandemie, waren es 164 Millionen Tonnen. „Wir reden von Klimaneutralität, aber die Zahlen im Verkehrssektor sprechen eine andere Sprache“, sagte Werner Schnappauf, Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) zur Eröffnung des parlamentarischen Abends „Stadt. Land. Mobilität?“ Ende Mai in Berlin.
Doch Nichtstun ist künftig keine Option mehr. “Gesunde Ökosysteme und eine reiche Artenvielfalt sind die Grundlage für das Überleben der Menschheit”, formuliert der IPCC in seinem jüngsten Sachstandsbericht zum Klimawandel. Deutschland hat sich deshalb ein Klimaschutzgesetz gegeben, das strikte Klimaziele bis 2030 vorschreibt: Der Verkehrssektor darf dann nur noch 85 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent ausstoßen. Und 2045, in 23 Jahren, will Deutschland nur noch so viel Treibhausgase emittieren, wie es an anderer Stelle wieder bindet, etwa durch Aufwuchs von Wäldern. Auch der Verkehr muss also klimaneutral werden.
Dazu kommt der gesellschaftliche Druck. Markus Lewe, Oberbürgermeister der Stadt Münster, Mitglied des RNE und Präsident des Deutschen Städtetages, formulierte es so: „Der Protest von der Straße, Fridays for Future und ähnliche, muss jetzt in eine geordnete Governance überführt werden. Das ist auch eine Überlebensfrage der Demokratie.“ Der RNE hat im vergangenen Jahr gemeinsam mit 25 Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern im Rahmen des Dialogs Nachhaltige Stadt einen Appell mit sechs zentralen Empfehlungen veröffentlicht, was jetzt zu tun ist, um die Mobilitätswende zu schaffen. Viele der Punkte kamen in Berlin zur Sprache, sie sind hier nachzulesen.
Markus Lewe: Planungsprozesse verschlanken
Der parlamentarische Abend baute nun auf den Appell und einem gemeinsamen Dialogprozess mit den Landkreisen seit Anfang 2022 auf. Das Ziel: Die Kommunen mit anderen staatlichen Ebenen besser ins Gespräch bringen – deshalb waren nicht nur Vertreter*innen aus Städten und Landkreisen gekommen, sondern auch Bundestagsabgeordnete und Vertreter*innen der Bundesregierung.
Wie also kann es gelingen, die nötigen Änderungen schnell voranzubringen? Ein zentraler Punkt, der immer wieder angeführt wurde: Die gesamte Governance in Deutschland ist noch nicht auf den Wandel eingestellt – „weder auf Bundes-, noch auf Landes- noch auf kommunaler Ebene“, so Lewe. Gerichte müssten deshalb besser ausgestattet werden, um über Klagen gegen wichtige Projekte schneller zu entscheiden, die Verwaltungen müssten agiler werden, Planungsprozesse radikal verschlankt werden. Als Beispiel nannte Lewe die Güterzugstrecke Münster-Warstein, die seine Stadt und umliegende Landkreise seit 2006 für den Personenverkehr reaktivieren wollen – ein Projekt, das sich immer wieder verzögert.
Olaf Gericke, Landrat des an Münster angrenzenden Landkreises Warendorf und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Landkreistages, forderte, Klagewege zu verkürzen. Es sei ein hohes Gut und Ausdruck eines modernen Staates, dass Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeiten hätten, gegen staatliche Entscheidungen vor Gericht ziehen zu können. „Wir haben aber der Frage, staatliche Entscheidungen zu hinterfragen, so viel Raum gegeben, dass Entscheidungen nun sehr viel länger dauern“, sagte Gericke. Er fragte, ob es wirklich nötig sei, dass alle Entscheidungen in die letzte Instanz gingen.
Der zweite Punkt, der viel Raum einnahm: Kommunen müssen nicht nur finanziell besser ausgestattet werden, sie brauchen auch bessere Gesetze der Bundesebene. „Wir wollen ein modernes Verkehrsrecht für die Mobilitätswende. Dazu brauchen wir eine stärkere Ausrichtung auf Klimaschutz, auf Verkehrssicherheit, auf Lebensqualität, auf die Attraktivität der Städte und mehr Entscheidungsspielraum der Kommunen“, sagte Andreas Grund, Bürgermeister von Neustrelitz und Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft, Tourismus und Verkehr des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Mehr Beinfreiheit für die Kommunen forderten gleich mehrere Bürgermeister.
Claudia Kalisch: Fördermittel vereinfachen
Konkret könnte das etwa eine Änderung der Straßenverkehrsverordnung bringen. Die macht es derzeit beispielsweise kompliziert, Fahrradstraßen anzulegen. Städte und Kommunen wollen selbst darüber entscheiden, ob sie autofreie Innenstädte einrichten und fordern, selbst über die Höhe von Parkgebühren oder Bußgeldern entscheiden zu dürfen, um Projekte zur Verkehrswende auch selbst finanzieren zu können. Zuletzt forderten mehr als hundert Kommunen – so auch die Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister des vom RNE organisierten Dialogs „Nachhaltige Stadt“ – auf Initiative des Deutschen Städtetags und Agora Verkehrswende, Kommunen das Recht einzuräumen, auf ihren Gebieten frei entscheiden zu können, wo sie überall Tempo 30 einrichten wollen – auch stadtweit, wenn sie das für angemessen halten. Klaus Bonhoff, Abteilungsleiter Grundsatzangelegenheiten im Bundesverkehrsministerium, bekräftigte die Haltung von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), der sich offen für eine solche Regelung zeigt.
Die Liste der weiter angesprochenen Punkte ist lang: So warnten einige Bürgermeister und Bürgermeisterinnen vor Personalmangel in der Verwaltung, gerade im technischen Bereich oder zur Planung von Projekten für die Verkehrswende. Auch das verzögere den Wandel. Alex Maier, Oberbürgermeister von Göppingen, forderte, Planung und Umsetzung besser zu zentralisieren, ohne den Kommunen selbst die Entscheidungshoheit zu nehmen.
Auch die Förderlandschaft des Bundes beklagten einige als zu zerfahren. „Bitte keine Fördermittel mehr“, sagte Claudia Kalisch, die Oberbürgermeisterin von Lüneburg. Sie forderte den Bund auf, Projekte entweder durchzufinanzieren oder einfachere Programme aufzulegen. Es würden zu viele Gelder zum Fördermittelmanagement verbraucht, die besser genutzt werden könnten, um Dinge umzusetzen, sagt sie. Andere Teilnehmende sprechen davon, dass die Anträge zu aufwändig seien, oft förderten verschiedene Ministerien ähnliche Vorhaben, statt die Gelder stringenter zu bündeln. Förderhöhen seien zu niedrig, die Zeiträume zu kurz, der Eigenanteil der Kommunen zu hoch – was dazu führt, dass ausgerechnet strukturschwache Regionen wenig profitieren, die weder Personal für die Anträge noch genug Mittel für den Eigenanteil haben.
Boris Palmer: „Infrastruktur first“ ist keine Lösung
Nicht zuletzt fürchteten einige Teilnehmende, dass das Neun-Euro-Ticket seine Wirkung verfehlen könnte – weil dadurch Gelder für andere wichtige Verkehrsprojekte für eine bessere Infrastruktur im ÖPNV nicht mehr vorhanden sein könnten. Außerdem könnte es im Herbst, nach Ende des Tickets, ein böses Erwachen geben, wenn aufgrund der steigenden Inflation öffentlicher Nahverkehr auf einmal teurer sei als zuvor. Bonhoff widersprach hier: Das Ticket sei eine Folge des russischen Kriegs in der Ukraine, das Menschen dazu animieren soll, das Auto stehen zu lassen – seine Wirkung werde genau analysiert.
Auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer war in Sachen Neun-Euro-Ticket anderer Meinung. Er forderte, die Kommunen viel mehr mit kostenlosem Nahverkehr experimentieren zu lassen. „Ich denke nicht, dass wir mit ‚Infrastruktur first‘ zum Ziel kommen“, sagte er – und gab zu bedenken: „Schienen, die bis heute nicht geplant sind, gehen bis 2030 auch nicht in Betrieb.“ In Tübingen seien seit 2018 die Busse in der gesamten Stadt samstags immer kostenlos. Das bringe an diesem Tag 30 Prozent mehr Fahrgäste, so Palmer – insgesamt eine halbe Million mehr im Jahr. Dafür verzichte die Stadt auf 200.000 Euro an Einnahmen. „Ich finde keine andere Möglichkeit, wie man so günstig so viele zusätzliche Fahrgäste gewinnen kann“, sagte Palmer.
Was bleibt von dem Abend? Der Druck für Änderungen sei so groß wie nie, sagte Lewe. Das dürfte, auch im Hinblick auf die gesetzlichen Vorgaben zur CO2-Reduktion, in diesem Jahrzehnt für viel Bewegung sorgen. „Es ist ernst. Und wir haben keine Zeit zu verlieren“, so Schnappauf. Darin waren sich alle einig.