„Mit Fotografie Brücken bauen“

Ihre Flucht aus Syrien war gefährlich und beschwerlich, jetzt warten sie in Deutschland darauf, wie es weitergeht. Bei „Syria on the move“ zeigen junge syrische Flüchtlinge anhand von Fotos, wie sie im Exil leben. Das mit dem Qualitätssiegel „Werkstatt N“ des Rates für Nachhaltige Entwicklung ausgezeichnete Projekt hilft nicht nur den Geflüchteten, es soll auch das gesellschaftliche Bild über die Menschen, die geflüchtet sind, langfristig verändern.

Interview mit Anja Pietsch, Initiatorin des Projekts „Syria on the move“ 

Frau Pietsch, Sie bringen jungen Flüchtlingen bei, ihre derzeitige Lage anhand von Fotos auszudrücken. Welches Bild hat Sie bisher am stärksten beeindruckt?

Anja Pietsch: Einige versuchen ihren Aufenthalt fernab von zuhause als Erfahrung zu sehen, die ihnen neue Möglichkeiten eröffnet. Andere leiden unter den Erlebnissen ihrer Flucht. Hinzu kommt, dass viele allein unterwegs sind und sich große Sorgen um ihre Familie machen. Diese jungen Menschen haben eine sehr gefährliche und beschwerliche Flucht hinter sich. Auf einem der Fotos hat ein Teilnehmer sein Handy abgelichtet. Das Smartphone zeigt wiederum ein Bild von ihm auf dem Boot, das ihn aus der Türkei nach Griechenland brachte. Andere fotografieren Symbole, die sie an ihre Heimat Syrien erinnern, beispielsweise ein Globus, syrisches Geld oder andere Gegenstände. Das sind alles sehr starke Bilder, die viel über die Emotionen der Flüchtlinge ausdrücken. 

Wie entstand die Idee zu „Syria on the move“ ?

Bereits vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien haben wir Foto-Workshops vor Ort und in anderen Staaten des Nahen Ostens gemacht. Unser Anliegen ist es, der Zivilbevölkerung eine Stimme zu geben. Wenn über den Krieg berichtet wird, wird über die Opposition, das Assad-Regime oder über die Terroristen gesprochen. Aber die Menschen, die die Leidtragenden sind, haben keine Möglichkeit sich zu artikulieren. „Syria on the move“ soll eine Plattform sein, ihre Bedürfnisse zu äußern. 

Das Projekt wurde mit dem Qualitätssiegel „Werkstatt N“ des Rates für Nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet. Das Siegel tragen Initiativen, die den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft weisen. Denn: Aktuelle Krisen zeigen uns, dass die Probleme von heute nicht mehr mit der Denkweise von gestern gelöst werden können. Was kann man diesbezüglich von „Syria on the move“ lernen? 

Wir arbeiten mit marginalisierten Gruppen, die keine Stimme haben. Über die Fotografie geben wir den syrischen Jugendlichen Rüstzeug an die Hand, sich auszudrücken. Sie überwinden einerseits Sprachbarrieren, gleichzeitig treten wir mit Hilfe des Projekts Stereotypen entgegen. Wir wollen einen gesellschaftlichen Wandel nachhaltig bewirken. 

Wie soll dieser Wandel aussehen?

In der öffentlichen Debatte über die Flüchtlinge wird wenig über die Einzelschicksale der Menschen berichtet. Stattdessen verschwinden sie in der Masse. Die Flüchtlinge sind nicht passive Opfer, sondern es handelt sich um Individuen. Unser Projekt hat im Prinzip drei Ansätze. Zum einen soll das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt werden. Eine ehemalige Teilnehmerin gründete nach einem der Workshops eine Initiative für Frauen. Eine andere war weiter als Fotografin unterwegs. Die Menschen sind viel motivierter, was ihre Bereitschaft angeht, hier Fuß zu fassen und beispielsweise Deutsch zu lernen. Zum zweiten geht es uns darum, ein Problembewusstsein für die Geflüchteten innerhalb der Bevölkerung zu schaffen. Zugleich ist das Projekt ein Dialogforum, ein Format, über das sich die Flüchtlinge mit den Menschen in Deutschland auseinandersetzen können. 

Wer beteiligt sich an Ihrem Projekt?

Die meisten Teilnehmenden sind zwischen 18 und 21 Jahre alt und kommen aus allen Teilen Syriens. Sie bringen damit ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe mit. Das zeigt sich auch beim Bildungsstand. Einige können kaum Lesen, andere haben studiert. Es sind vor allem junge Männer, die mitmachen. Technische Kenntnisse sind keine Voraussetzung. Wir bringen den Teilnehmenden die wichtigsten Aspekte zum Thema Fotografieren bei. Dabei geht es etwa um den Zusammenhang zwischen Zeit und Blende, die Farbgestaltung oder um Grundlagen zur Dramaturgie eines Bildes. 

Was passiert mit den Fotos?

Im Juni sollen die Fotos in einer Ausstellung in Potsdam gezeigt werden. Danach wollen wir auch an anderen Orten zunächst in Brandenburg ausstellen. In Berlin gibt es bereits sehr viele Projekte für die Menschen. Dagegen ist der Bedarf in den ländlichen Regionen sehr hoch. 

Das Projekt wurde vom Verein „SocialVisions“ angestoßen. Welchen Ansatz hat die Initiative?

Unsere Gruppe gibt es seit 2010. Wir arbeiten alle an partizipativen Fotoprojekten und bieten dazu Workshops an. Soziale Fragestellungen wollen wir über Bilder darstellen und damit denen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden. 

Die Jugendlichen haben auf ihrer Flucht meist traumatische Erfahrungen gemacht. Wie kann ihr Projekt helfen, diese Erfahrungen zu bewältigen?

Wir wollen positive Erlebnisse für die Teilnehmer schaffen. Über die Arbeit und das Erlernen neuer Techniken wollen wir das Selbstbewusstsein der Jugendlichen stärken. Man kennt das ja auch von sich selbst. Wer etwas Neues schafft, traut sich mehr zu. Der Workshop soll Anstoß und Bestärkung sein, Neues zu wagen. 

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ – was bedeutet dieser Satz für Ihr Projekt?

Die Flüchtlinge müssen kulturelle und sprachliche Barrieren überwinden. Diese Hürden führen schnell in die soziale Isolation und die Menschen ziehen sich immer weiter zurück. Fotografie ist ein sehr gutes Medium Brücken zu bauen, ohne heikle Themen anzusprechen. Dazu zählt zu zeigen, was in Deutschland nicht gut läuft oder auch sehr persönliche Sichtweisen. Viele Jugendliche haben Heimweh, aber gleichzeitig fällt es ihnen schwer, das auszusprechen. Die Fotos sind ein Statement für ihre Gefühlswelt. 

Welche Unterstützung brauchen Sie, um das Projekt langfristig aufrecht zu erhalten?

Wir sind immer auf der Suche nach Kamera-Paten oder gebrauchten Digitalkameras. Zudem wünschen wir uns mehr Partner in den Kommunen, die mit uns Ausstellungen organisieren oder uns bei den Workshops unterstützen. Für uns ist wichtig, dass es möglichst viele Angebote dieser Art dort gibt, wo die Flüchtlinge leben. 

Inwiefern kann „Syria on the move“ zu einer nachhaltigen Gesellschaft beitragen?

Unsere Sichtweise auf Randgruppen muss sich ändern und wir brauchen ein nuancierteres Bild. Wir müssen uns viel häufiger fragen: Was sind das eigentlich für Menschen und welche Bedürfnisse haben sie? Das gilt für die Geflüchteten, genauso wie für Obdachlose oder Arme. Das Projekt soll ein Anstoß sein für mehr Austausch, Dialog und dafür den einzelnen Menschen letztlich wieder stärker im Mittelpunkt zu sehen. 

Das Interview führte Tanja Tricarico

Weblinks:

Projekt „Syria on the move“
SocialVisions
Werkstatt N