Berlin, 23.09.2019 – Der Nachhaltigkeitsrat sieht den Klimabeschluss der Bundesregierung als einen Startschuss und als Teil einer Debatte, die intensiv fortgeführt werden muss. Die Vorsitzende des Nachhaltigkeitsrates, Marlehn Thieme, bewertet das Ergebnis mit den Worten: „Jetzt wurde endlich beschlossen, was noch vor kurzem undenkbar war. Gleichwohl kann das Ergebnis nicht zufriedenstellen.“ Den politischen Verhandlern und den Begleitern aus der politischen Öffentlichkeit sei großer Respekt zu zollen, so Thieme. Selten zuvor hätte es eine so breite und so sachverständig geführte Diskussion über den Weg Deutschlands raus aus der Klima- und Entwicklungskrise gegeben; selten zuvor sei mit vergleichbarer Detailschärfe um Grundsatzfragen gestritten worden und selten sei der Aufwand und persönliche Einsatz der politischen Spitzen so groß gewesen. Es sei sehr gut, dass die Bundesregierung ihre eingegangenen Klima-Ziele ernst nehme und diese Ziele nicht beim ersten ernsten Gegenwind preisgebe.
Massive wissenschaftliche Daten und Beweise zeigen auf, dass „die Politik“ beim Klimaschutz in der Vergangenheit nicht aktiv genug war. Der Fehlschlag des Ziels „40%-CO2-Reduktion bis 2020“ führt nun zu Konsequenzen. Das Klimapaket geht an vielen Stellen aber nicht weit genug. Insbesondere die Einführung eines CO2-Preises ist zwar positiv, der Preis ist aber zu niedrig, zu wenig dynamisch und nicht dauerhaft genug, um ein langfristiges Steuerungssignal zu setzen. Die Verpflichtung, die Ziele des Klimaübereinkommens von Paris zu erreichen, wird zwar genannt, nicht aber, dass es dafür notwendig ist, das bisherige Ziel für die europäische Emissionssenkung bis 2030 deutlich anzuheben. Genau hierfür muss sich die Bundesregierung nunmehr auf europäischer Ebene konsequent einsetzen. Deutschland muss jetzt ambitioniertere Klimaziele der EU unterstützen und die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik klimagerecht ausgestalten.
Der Nachhaltigkeitsrat begrüßt es, dass neue und zusätzliche Maßnahmen und Konzepte vereinbart wurden. Jetzt sind konkrete Gesetze zu schreiben und Förderrichtlinien zu entwerfen. Es sind Vereinbarungen mit Ländern und Kommunen zu treffen. Die Prüfaufträge sind in kürzester Zeit abzuarbeiten. Nach dem Klimakabinett ist vor der Arbeit an den wirklich zählbaren Wirkungen zum Klimaschutz und es wird viele konkrete Entscheidungen geben, an denen die politischen Absichten gemessen werden können.
Der Nachhaltigkeitsrat gibt der weiteren Beratung im Bundestag und Bundesrat sowie der Ausgestaltung auf Seiten der Bundesregierung folgende Eckpunkte mit auf dem Weg:
Der Nachhaltigkeitsrat empfiehlt die Einbettung der Klimamaßnahmen in eine „tiefe“ Nachhaltigkeitsstrategie im Sinne eines Gemeinschaftswerkes quer durch alle Sektoren und gesellschaftlichen Bereiche. Als Instrument zur Umsetzung von Richtlinien und politischen Leitungsvorgaben ist die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ein gutes Beispiel dafür, wie sich Politik überprüfbar macht, wie sie wissens- und prozessbasiert vorgeht und bereit zur Fehlerkorrektur ist.
Der CO2-Ausstoß aller Sektoren – von der Land- und Ernährungswirtschaft, der Immobilienwirtschaft über den Verkehr bis zu den Industriesektoren und der Wirtschaft – muss im Jahresrhythmus reduziert werden. Fehlentwicklungen müssen im jeweiligen Sektor haushaltswirksam gegengesteuert oder sanktioniert werden.
Die Bepreisung von CO2 ist die zentrale Maßnahme. Sie hat eine lenkende und vor allem auch symbolische Bedeutung für die Transformation der Wirtschafts- und Konsummuster. Das neue CO2-Handelssystem im Bereich Gebäude und Verkehr ist ein richtiger, in der jetzt vorgeschlagenen Form aber unzureichender Schritt. Im Emissionshandel Gebäude und Verkehr muss der Großhandel als sogenannter ‘Inverkehrbringer’ (nicht die Autofahrerinnen und Heizungskundinnen) Zertifikate erwerben. Deren Preis darf nicht von dem Industriepreis übernommen werden, sondern muss sich aus dem CO2-Deckel für Gebäude und Verkehr ergeben. Der bewährte Grundsatz der Haushaltswahrheit und –klarheit ist auch im Hinblick auf das CO2-Budget geboten. Der Fixpreis für 2021 bis 2025 von zehn bis 35 Euro liegt weit unter der von der Wissenschaft vielfach genannten Höhe. Kontraproduktiv ist, dass die soziale Kompensation durch die Pendlerpauschale anfangs höher liegt als das Preissignal für Benzin.
Es ist wichtig, dass den Menschen nicht allein das Preis-Signal gegeben wird. Nachhaltigkeit muss immer bei Menschen ansetzen und im Alltag erfahrbare Anreize geben. Für die Transformation des individuellen Verhaltens sind Förderinstrumente und ordnungsrechtliche Schranken unverzichtbar. Um Bürgerinnen und Unternehmen Alternativen zum bisherigen Verhalten zu geben, sind zum Beispiel weitere Streckenstilllegungen der Deutschen Bahn zu unterlassen. Erforderlich ist auch ein Aufbauplan für die Bahninfrastruktur im ländlichen Raum.
Die gesetzliche Umsetzung des CO2-Deckels für Gebäude sollte der Immobilien- und Bauwirtschaft klare Vorgaben für das nachhaltige Bauen in der Bestandssanierung machen und der Innenentwicklung klare Priorität geben. Hier sind Innovationen und neue Lösungen zu finden.
Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist dringlich. Hier muss mehr getan werden als bisher. Das Abflauen des Windstromausbaus ist nicht hinzunehmen. Ausbaublockaden und Innovationsverweigerung insbesondere bei on-shore-Windanlagen sind mit dem Klimaschutz nicht vereinbar.
Ordnungsrechtliche Lösungen wie etwa im Heizungsbau sind im Grundsatz richtig. Wir empfehlen aber dringlich, zusätzlich das hohe Potenzial und die Innovation von Nahwärme-Genossenschaften, Regionalwert-Wirtschaften und der nachhaltigen Städteplanung sehr viel stärker zu nutzen.
Die Bürgerinnen als Mieterinnen und Beschäftigte für einen erhöhten Öl-, Benzin- und Gaspreis zu entlasten, ist eine im Grundsatz richtige Konzeption. Die Erhöhung der Pendlerpauschale mag kurzfristig naheliegen, ist aber mittel- und langfristig völlig falsch. Die Pendlerpauschale fördert das Anwachsen der Pendlerströme und diese machen den Städten und ihrer Infrastruktur bereits heute fast unlösbare Probleme. Es wäre sowohl städtebaulich als auch sozialpolitisch und gesundheits-(pflege-)politisch wie eben auch klimapolitisch anzuraten, der Trennung von Wohnen und Arbeiten entgegenzuwirken statt diese noch anzufachen. Die Kostenbremse für den öffentlichen Verkehr und insbesondere die Bahn ist ein richtiger Schritt. Die Änderung der Entfernungspauschale ist im Übrigen föderal abstimmungsbedürftig, weil sie zu Mindereinnahmen bei der Einkommensteuer zu Lasten des Bundes und der Länder führt.
Wir halten eine an Nachhaltigkeitskriterien orientierte, kritische Überprüfung und Verminderung von Subventionen des Bundes für erforderlich. Ohne die Abschaffung von klimaschädlichen Subventionen wie dem Dieselprivileg bleibt das Konzept halbherzig und werden Ziele und Maßnahmen konterkariert. Das ist teuer und geht zu Lasten der Wirksamkeit und auch der Glaubwürdigkeit. Die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder sollten in die Lage versetzt werden, die finanzielle und fossilstoffliche Nachhaltigkeit in der Verwaltungspraxis zu überprüfen.
Die aus Brüssel angedrohten Strafzahlungen wegen unterlassener Maßnahmen sind ein Druckmittel für die Politik, weil sie den Haushalt belasten. Nichtstun und Mutlosigkeit erzeugen aber noch viel größere soziale wie ökologische und langfristig ökonomische Kosten, weil sie Investitionen fehlleiten, Innovationen missachten und die Lebensenergie von Millionen Menschen enttäuschen, die für sich und ihre Kinder ein würdevolles Leben mit sinnstiftenden Jobs in nachhaltiger Entwicklung aktiv anstreben.
Wir begrüßen den Innovationsfonds. Es ist richtig, den Finanzmarkt und die Innovationskraft der Wissenschaft und von Unternehmen als Instrument für den Klimaschutz zu nutzen. Ziel muss es sein, Deutschland in den nächsten zehn Jahren zum Technologieführer für nachhaltige Technologien zu machen. Innovation und Umweltvorsorge gehören zusammen: Wir müssen Lösungen zum Recycling von Wind- und Solartechnologien entwickeln und anwenden, insbesondere zu den Windrotoren. Deutschland muss vollumfänglich in das nachhaltige Wirtschaften einsteigen.
Der Nachhaltigkeitsrat weist darauf hin, dass es um mehr geht als nur um die technische Optimierung und soziale Ausgewogenheit von Instrumenten. Der im Vorfeld der Kabinettsentscheidung aufgebaute Gegensatz zwischen Fördermaßnahmen und Regulation, Freiheit und Verbot, ist oftmals nicht mehr als eine Scheinkontroverse. Es muss um einen Mix gehen, der dem politischen Willen das Primat gibt und sich damit in fassbaren und konkreten Schritten zur Transformation niederschlägt.
Transformationsprozesse müssen sozialverträglich gestaltet und durch aktive Lernprozesse bei Verwaltungshandeln, Förderinstrumenten und Ordnungsrecht begleitet werden, um die politischen Maßnahmen stetig und schnell zu verbessern. Dafür bietet eine Integration mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie wichtige Chancen. Auch der Rat der externen Expert*innen wird dafür sehr wichtig sein; sie müssen für die Wahrnehmung ihrer Aufgabe entsprechend gut ausgestattet werden.
Die notwendige gesellschaftliche Dimension erreicht Klimaschutz letztlich nicht durch noch so gute einzelne Maßnahmen. Klimaschutz ist ein Gemeinschaftswerk und muss sich auch so anfühlen. Für das Vertrauen in Politik und das Engagement der Menschen in Unternehmen, Sportvereinen, Kirchen, Verbänden oder öffentlichen Einrichtungen ist der innere Zusammenhang der Maßnahmen oft wirkungsmächtiger als die Summe der Maßnahmen. Um diesen zu aktivieren, braucht man eine Strategie. Nachhaltigkeit braucht Kontinuität. Nur dann sind Sprunginnovationen möglich und vor allem auch sinnvoll. Die beschlossenen Eckpunkte beziehen sich auf die zunächst in Deutschland vereinbarten Ziele bis 2030. Der Klimawandel ist damit aber nicht gestoppt. Das 1,5°C-Ziel erfordert weit mehr und tiefer eingreifende Maßnahmen. Klimaschutz ist ein Marathon mit vielen Zwischenstationen zum Nachsteuern.
Wir ermutigen die Koalition ausdrücklich, das „Prinzip Nachhaltigkeit“ als Verfassungsgrundsatz in das Grundgesetz aufzunehmen. Dies würde die notwendigen politischen Prozesse zur nachhaltigen Entwicklung unterstützen, Flexibilität absichern, die Prüfung von Gesetzen verbessern und gäbe ein langfristiges, klares und unmissverständliches politisches Signal.
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Medienreferentin
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Dem Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) gehören 15 Personen des öffentlichen Lebens an. Er wird jeweils für eine dreijährige Amtsperiode von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufen. Den Vorsitz führt Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe, Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates sowie Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, stellvertreten von Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbund Deutschland. Der Rat berät die Bundesregierung zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, benennt dringende Handlungsfelder und trägt vielfältig dazu bei, Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen zu machen.
Inhaltlich und in seinen Aktionsformen ist der Rat unabhängig. Ergebnisse seiner Arbeit sind zum Beispiel der Deutsche Nachhaltigkeitskodex, diverse politische Stellungnahmen zur nationalen und internationalen Nachhaltigkeitspolitik sowie zu Themen wie Digitalisierung, Klima, Rohstoffe, Plastik, Landwirtschaft. Der Rat bringt Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister zum Dialog „Nachhaltige Stadt“ zusammen, hat den Peer Review 2018 zur deutschen Nachhaltigkeitsstrategie organisiert und moderiert, er vernetzt Akteure durch die Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN) und fördert Projekte zur Alltagskultur mit diversen Ideenwettbewerben sowie den Deutschen Aktionstagen Nachhaltigkeit. Die Mitglieder des Rates werden durch eine Geschäftsstelle unter Leitung des Generalsekretärs Prof. Dr. Günther Bachmann sowie Yvonne Zwick und Bodo Richter als stellvertretende Generalsekretäre unterstützt. Mehr Informationen unter: www.nachhaltigkeitsrat.de