Nachhaltige Entwicklung und sozialer Zusammenhalt: zwei Seiten einer Medaille?

Der Nachhaltigkeitsrat unterstreicht in einer Stellungnahme die kritische Rolle der Kommunen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die nachhaltige Transformation vor Ort. Katja Dörner, Oberbürgermeisterin von Bonn, Ratsmitglied und Leitautorin des Papiers, diskutiert mit der Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa darüber, was sich ändern muss.

Frau Dörner, der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) hat im Juni 2024 „Empfehlungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Kommunen“ veröffentlicht. Sie haben daran maßgeblich mitgewirkt. Warum braucht es diese Empfehlungen?

Katja Dörner: Es hat sich etwas verändert im Land. Das sieht man auch daran, dass sich der RNE, der sich ja bisher um klassische Nachhaltigkeitsfragen gekümmert hat, das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt auf die Fahnen geschrieben hat. Nachhaltigkeit und soziale Teilhabe müssen Hand in Hand gehen, wenn wir vorwärts kommen wollen. Auch bei Nachhaltigkeitsthemen wie Klimaschutz und Biodiversität können wir nur dann erfolgreich sein, wenn wir die Teilhabe aller mitdenken. Wir sehen, dass die Schere in der Gesellschaft immer weiter auseinandergeht und dass viele Menschen berechtigte Sorgen und Ängste angesichts der notwendigen Veränderungen haben. Diese Veränderungen, die wir dringend brauchen, müssen wir so ausgestalten, dass wir Menschen nicht ausschließen.

Frau Welskop-Deffaa, als Präsidentin der Caritas haben Sie einen genauen Blick auf die Veränderungen im sozialen Gefüge des Landes. Wo stehen wir Ihrer Meinung nach?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Aus der Perspektive eines Wohlfahrtsverbandes, der sich in den letzten Jahren stark um einen sozial gerechten Klimaschutz bemüht hat, begrüße ich es ausdrücklich, dass der RNE in dieser Weise den eigenen Horizont weitet. Die unglaubliche Mobilisierungsfähigkeit populistischer und extremer Parteien ist ein besonders deutlicher Ausweis dessen, was uns allen Sorgen macht. Ich glaube, es gibt einen manifesten Sozialneid nach unten, der sich mit einem gefährlichen Nützlichkeitsdenken paart: „Gut ist, was und wer mir nützt.“ Da gelingt es dann plötzlich leicht, Menschen, die vom Schicksal hart getroffen wurden, als Faulenzer zu diffamieren. Forderungen, öffentliche Unterstützungsleistungen einzuschränken, werden mit Vorurteilen gespickt. Über Verunglimpfungen werden immer wieder neu Spaltungen in die Gesellschaft hineingetragen und das Fundament der demokratischen Parteien untergraben. Als Vertreterin eines konfessionellen Wohlfahrtsverbandes aber frage ich mich auch, wie sehr die schwindende soziale Macht des Christlichen dazu beiträgt, diese Tendenzen zu beschleunigen.

Frau Dörner, Frau Welskop-Deffaa diagnostiziert ein schwindendes Wertesystem als einen Grund für die gesellschaftlichen Spaltungen. Erleben Sie das so auch vor Ort bei sich in Bonn?

Dörner: Ich teile die Analyse von Frau Welskop-Deffaa, kann aber für Bonn sagen, dass wir hier noch sehr viel sozialen Zusammenhalt spüren. Das zeigt sich auch an den Ergebnissen der Europawahl. Das hat meines Erachtens damit zu tun, dass wir auch einen gewissen Zusammenhalt zwischen den demokratischen Parteien haben. Und dass die Kirchen und Wohlfahrtsverbände eine zentrale Rolle spielen. Wir haben eine starke und aktive Zivilgesellschaft, viel ehrenamtliches Engagement. Wir haben in Bonn auch keine polarisierte Auseinandersetzung zum Thema Geflüchtete. Der Grund ist, dass sich hier von den demokratischen Kräften niemand auf eine polarisierte Diskussion eingelassen hat – anders als beispielsweise auf der Bundesebene –, sondern dass wir immer einen lösungsorientierten Ansatz hatten. Wir sagen: Ja, es gibt Probleme, die benennen wir auch. Und dann gucken wir gemeinsam, wie wir wirklich Lösungen finden. Es ist ein Schlüssel, die Ängste der Menschen vor Veränderungen ernst zu nehmen und aufzugreifen. Ja, wir müssen mit Blick auf Nachhaltigkeit etwas tun, wir müssen viel mehr tun. Aber wir müssen es so machen, dass sich nicht einzelne Teile der Gesellschaft von diesem Prozess ausgeschlossen fühlen.

Die RNE-Stellungnahme fordert, die „Handlungsfähigkeit“ der Kommunen zu stärken, auch finanziell. Gerade ist das Geld ja überall knapp. Warum wäre es besonders effektiv, die Mittel den Kommunen zur Verfügung zu stellen?

Dörner: Die Kommunen sind die staatliche Ebene, auf der das Versagen der Institutionen unmittelbar von den Menschen erfahren wird. Wenn das Bonner Dienstleistungszentrum nicht in der Lage ist, in einer adäquaten Zeitschiene Personalausweise oder Führerscheine auszugeben, oder wenn es Monate dauert, einen Wohngeldantrag zu bearbeiten, dann lässt das die Leute daran zweifeln, dass wir ein gut organisierter Staat sind. Auch bei mir in Bonn stehen die Menschen vor dem Ausländeramt in langen Schlangen an. Das erodiert Vertrauen in den Staat als Ganzes.

Wir Kommunen sind für die Aufgaben, die wir haben und erfüllen wollen, finanziell nicht mehr adäquat ausgestattet, geschweige denn für die vielen zusätzlichen Aufgaben, die auf uns zukommen – auch wenn diese Aufgaben bei uns gut aufgehoben sind. Ich habe mich sehr gefreut, dass der RNE sich der Forderung angeschlossen hat, Klimaschutz zu einer kommunalen Pflichtaufgabe zu machen. Das ist eine Forderung, die auch der Deutsche Städtetag erhebt.

Welskop-Deffaa: Die Beschreibung von Frau Dörner kann ich leider Gottes nur bestätigen: Die Schlangen sind oft zu lang– gerade vor den Ämtern, wo es für die Menschen um ganz elementare Teilhaberechte geht. Ich finde es wichtig, dass der RNE auf die offensichtliche Zuordnungslücke hinweist: Da werden Gesetze auf Bundesebene gemacht, ohne zu berücksichtigen, dass sie vor Ort umgesetzt werden müssen. Deswegen war es tatsächlich immer schon die Haltung der Wohlfahrtsverbände, insbesondere des Deutschen Caritasverbandes, die Kommunen zu stärken. Wir brauchen ihre Kompetenz und Kraft damit die Menschen das bekommen, was sie brauchen. Da enthält die RNE-Stellungnahme viele richtige Vorschläge.

Ein weiteres Lösungsfeld, das die RNE-Stellungnahme definiert, ist die „Kommune für alle“. Das geht ja weit über eine funktionierende Kommunalverwaltung hinaus. Ist das utopisch?

Welskop-Deffaa: Ich finde die RNE-Vorstellungen einer „Kommune für alle“ keineswegs utopisch, sondern sehr konkret und deswegen auch besonders ermutigend. Hier wird deutlich, dass kluge Investitionen zum Beispiel in den ÖPNV am Ende dazu führen, dass soziale Ungleichheiten ausgeglichen und gleichzeitig (!) Klimaschutz-Ziele besser erreicht werden können. So schlagen die Städte und Gemeinden tatsächlich zwei Fliegen mit einer Klappe und sind wirkungsvoll „Kommune für alle”.

Dörner: Mir war bei dem Papier wichtig, dass es um die Herangehensweise geht – wie gestalten wir die notwendige Transformation? Wir haben dafür den etwas sperrigen Begriff des sozialen Mainstreamings. Das brauchen wir auf allen Ebenen: dass wir bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, von Anfang an die soziale Einbettung mitdenken. Das geschieht mitnichten automatisch. Aber es kann gelingen. Ein Beispiel aus Bonn: Wir haben ein eigenes Förderprogramm für Photovoltaik aufgelegt. In der ersten Tranche, die wir ausgeschrieben haben, haben sich fast ausschließlich Menschen, die Einfamilienhäuser besitzen, ihre Photovoltaikanlage mitsubventionieren lassen. Das ist völlig in Ordnung. Aber es ist uns natürlich aufgefallen, dass das auch Mitnahme-Effekte von Menschen waren, die eigentlich dieses Geld aus dem städtischen Haushalt nicht gebraucht hätten. Und deshalb sind wir eine der ersten Kommunen gewesen, die stark auf Balkon-Kraftwerke gegangen sind, damit auch Mieter*innen und Menschen mit einem kleinen Geldbeutel an der Energiewende teilhaben können. Jetzt haben viele eingewendet: Naja, aber damit kriegt ihr, was CO2-Einsparungen angeht, nicht den Output, wie wenn ihr in große Anlagen investiert hättet – und das stimmt auch. Trotzdem finde ich unsere Herangehensweise richtig, weil wir so den Klimaschutz und die Teilhabe zusammengebracht haben und den Mehrwert schaffen, dass Menschen sich mit einem Veränderungsprozess identifizieren können, selber daran teilhaben können. Ich glaube, dass wir Vielen so Ängste nehmen können.

Welskop-Deffaa: Es gibt tatsächlich manifeste Sorgen bei Menschen im niedrigen Einkommensbereich, Klimaschutz sei ein Projekt der Reichen. Am Ende werde es auf dem Rücken der Kleinen ausgetragen. Diese Ängste können einer der wesentlichen Anknüpfungspunkte für Populisten sein.

Ein weiterer wichtiger Punkt der RNE-Stellungnahme ist ja – unter dem Stichwort „kooperative Kommune“ – die Stärkung der Mitbestimmung, der Bürger*innenbeteiligung. Geht es darum, dass Menschen lieber mitmachen, wenn sie auch mitreden können, wie die Transformation ausgestaltet wird? Oder geht es darum, dass sie vielleicht besser wissen, was zu tun ist?

Dörner: Beides ist richtig: Wer mitgestaltet, macht lieber mit. Und oft wissen die Leute auch besser, wie man es machen kann und muss. Viele Kommunen erproben neue Beteiligungsformate, etwa Bürger*innenräte, damit nicht das passiert, was wir häufig haben: dass nur die – im positiven Sinne – üblichen Verdächtigen sich beteiligen, also die bildungsaffinen Schichten. Wir haben in den Kommunen auch gelernt, dass es besonders wichtig ist, Beteiligung auf Quartiersebene zu ermöglichen – so wie wir das auch in der Stellungnahme vorschlagen. Und wir versuchen, neue Anreize zu schaffen: Nordrhein-Westfalen etwa schreibt jetzt vor, dass Gemeinden an den Gewinnen von Windkraftanlagen beteiligt werden.

Frau Welskop-Deffaa, wie schwer ist es, Menschen an Prozessen zu beteiligen, die sich außen vor gelassen fühlen?

Welskop-Deffaa: Die unterschiedlichen Voraussetzungen für Teilhabe, auf die Frau Dörner hingewiesen hat, müssen ausgeglichen werden. Da gibt es gute Mechanismen: In Baden-Württemberg beispielsweise werden die Einwohner-Meldedaten genutzt, um repräsentativ Bürgerräte zusammenzusetzen. Sinnvoll ist es auch, auf die Strukturen von Wohlfahrtsverbänden, von zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückzugreifen, wenn es zum Beispiel darum geht, Menschen mit Behinderung die Chance zu geben, sich in die Gestaltung des ÖPNV angemessen einzubringen – oft haben sie gar keine Chance, allein zu dem Versammlungsort zu kommen! Da sind unsere Erfahrungen als Wohlfahrtsverbände mit aufsuchender Beratung, mit Mobilitätshilfen ein wichtiger Faktor, um die Menschen in die Entscheidungen hineinzunehmen, die oft schon die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Stimme ja doch nicht zählt und interessiert. Sonst hat man genau diese teuflische Spirale der Selbstentmächtigung. Der RNE gibt Hinweise, wie Politik diese Spirale durchbrechen kann.

Dörner: Ein Punkt noch, was die Frage der Wirksamkeit und Selbstwirksamkeit angeht: Ich finde es ganz zwingend, dass, wenn man Beteiligungsverfahren macht und Menschen einlädt, sich zu beteiligen und ihre Ideen einzuspeisen, man auch darüber diskutiert, warum bestimmte Dinge nicht umgesetzt werden können. Weil sonst auch der beste Beteiligungsprozess am Ende nichts wert ist, wenn man als Gesamtheit nicht klar hat, warum bestimmte Dinge gemacht werden und andere nicht.

Alles, was wir bisher besprochen haben, kostet Geld. Auch dazu hat sich der RNE Gedanken gemacht: Wie wollen Sie das alles bezahlen, Frau Dörner? Und welche Strukturen braucht es auf Landes- und Bundesebene, um die Kommunen in ihren Anstrengungen zu unterstützen?

Dörner: Wir drehen in dem Papier schon ein relativ großes Rad. Denn wir sagen: Bund, Länder und Kommunen müssen über die Finanzaufteilung in dem Bereich noch mal gesondert ins Gespräch kommen. Aber das ist aus meiner Sicht wirklich unabdingbar. Sonst können die Kommunen ihren Aufgaben nicht gerecht werden, insbesondere mit Blick auf Nachhaltigkeit. Den Hebel der Pflichtaufgabe habe ich vorhin schon genannt. Die würde natürlich aus unserer Sicht mit einer finanziellen Verpflichtung des Bundes einhergehen. Was die Unterstützung durch andere staatliche Ebenen betrifft: Sehr, sehr wichtig wäre es, die vielen Förderprogramme, die es vonseiten des Bundes und der Länder gibt, zu vereinheitlichen und zugänglich zu machen, insbesondere für die kleinen Kommunen.

Welskop-Deffaa: Das RNE-Papier macht deutlich, dass mehr Partizipation mehr Effizienz bedeutet. Und Effizienz heißt am Ende: Ressourcen und Kosten sparen. Partizipation ermöglicht mehr Gerechtigkeit und weniger Ungleichheit. Auch das sind – mindestens mittelfristig – Garanten für Ressourcensparsamkeit. Wir müssen klarmachen, dass Kürzungen im Bereich des Sozialen, insbesondere in der sozialen Infrastruktur, nur scheinbar Kosten sparen. Sie ziehen stattdessen allzu häufig hohe Folgekosten nach sich. Unser gemeinsamer Appell muss lauten: Seid vorsichtig bei Einschnitten im Sozialen – es wird euch teuer zu stehen kommen!

Dörner: Für mich ist es von elementarer Bedeutung, dass wir ein gemeinsames Verständnis dafür entwickeln, dass nachhaltige Entwicklung und sozialer Zusammenhalt zwei Seiten einer Medaille sind. Ich bin mir sicher, dass auch die großen Herausforderungen, die großen Veränderungsprozesse gelingen können, wenn wir diesen Zusammenhang gemeinsam immer im Blick haben.

 

Empfehlungen & Stellungnahmen

Handlungsfähig. Kooperativ. Für alle. Empfehlungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Kommunen

Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung; Berlin, 26.06.2024