“Unsere Lebensgrundlagen stehen durch die etablierten Produktions- und Konsummuster unserer Zeit unter großem Druck.” Der Satz stammt nicht von einem Umweltverband, sondern aus einem ersten Thesenpapier des neuen Sustainable Finance Beirates der Bundesregierung, der seit Juni arbeitet. Die Ambitionen sind groß: Die Bundesregierung will Deutschland zum führenden Standort für nachhaltige Finanzmärkte machen.
Den Beirat selbst bilden Vertreterinnen und Vertreter von Banken, Asset Managern, der Deutschen Börse, Ratingagenturen, der Industrie, Versicherern, der Wissenschaft, NGOs und Behörden. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) ist als Beobachter vertreten – und hat eine Stellungnahme zur Sustainable Finance Strategie der Bundesregierung veröffentlicht . Die meisten der 38 Expertinnen und Experten des Beirates haben sich auf dem dritten Sustainable Finance Gipfel in Frankfurt erstmals der Diskussion mit dem Fachpublikum gestellt. Lesen Sie hier die zentralen Diskussionspunkte.
“Was verstehen wir unter Nachhaltigkeitsrisiken?”
Genau diese rhetorische Frage stellte Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium auf dem Frankfurter Gipfel. Die Idee dahinter ist, das nicht-nachhaltiges unternehmerisches Handeln als Geschäftsrisiko für Investoren und deren Kunden, also Sie und ich, transparent und bewertbar werden soll. Das scheint die Branche noch zu überfordern. „Viele stöhnen und fragen sich, ob jetzt noch mehr Regulierung kommt. Viele sind auch verschreckt und fürchten die Arbeit, weil sie keine Erfahrung mit dem Thema Ethik, Nachhaltigkeit oder Menschenrechte haben”, so schätzt Silke Stremlau die Stimmung der Finanzbranche ein. Sie ist vom ethisch-sozialen Unternehmensverbund Hannoversche Kassen, der betriebliche Altersvorsorge anbietet. Kukies beruhigte, man wolle bewusst keine neuen Vorschriften erlassen, sondern die bestehenden Richtlinien ausbauen, um Nachhaltigkeitskriterien in bisherige Risikokategorien aufzunehmen.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat dazu kürzlich ein Merkblatt veröffentlicht, das noch bis zum 3. November zu Konsultation offen steht und Beispiele für solche Risiken enthält: Ein Pensionsfonds investiert etwa in ein Chemie-Unternehmen, das nicht nachhaltig wirtschaftet. Eine abrupte Änderung der Marktstimmung führt zu Abwertungen. Das ist ein klassisches Marktrisiko, wie es heute schon erfasst werden muss. Oder Kundinnen und Kunden ziehen nach einer Überschwemmung Geld aus einem lokalen Kreditinstitut ab, um die Schadensbeseitigung zu finanzieren – ein klassisches Liquiditätsrisiko. Insgesamt habe das BaFin-Blatt vielen in der nachhaltigen Finanzwirtschaft “Freudentränen in die Augen” getrieben, weil es von vielen klassischen Akteuren verlange, zur Nachhaltigkeit Haltung zu entwickeln, so Stremlau. Andere schränkten ein und verwiesen darauf, dass das Blatt nicht für die systemrelevanten Banken gelte, weil diese unter der Aufsicht der Europäischen Zentralbank stünden.
Daten, Daten, Daten
Neben Risiken, darauf verwies Frank Pierschel, Leiter des Referats für Bankenaufsicht der BaFin, warten auch große Chancen in Form von Investitionen in die Transformation der Wirtschaft. Für beides, Risiken und Chancen, braucht es umfangreiche Daten. Zwar gibt es in der EU eine Pflicht für große Unternehmen, Nachhaltigkeitsberichte anzufertigen, aber die reichen nicht aus. “Derzeit besteht kein gemeinsames Verständnis über jene wesentlichen ESG-Daten, die von der Real- und Finanzwirtschaft bereitgestellt und von Investoren verarbeitet werden sollen”, heißt es in dem Thesenpapier des neuen Beirates. Auf dem Gipfel in Frankfurt gab es deshalb auch viele Fragen zu dem Thema. Eine Arbeitsgruppe zählte eine ganze Reihe davon auf: Reicht die Qualität der Daten von Nachhaltigkeitsleistungen aus, um Kapitalströme zu lenken? Werden die Daten überhaupt aufbereitet und genutzt? Haben Banken, Versicherer oder andere Akteure die Software, die solche Daten verarbeitet? Es sei ein dickes Brett, allein Klimadaten in die Rechnungslegung einzubeziehen, bemerkte ein Teilnehmer.
Eine weitere Frage war, welchen Anreiz die Wirtschaft hat, detailliertere Zahlen zur Nachhaltigkeit zur Verfügung zu stellen, die möglicherweise Wettbewerbern sehr viel Einblick ins Unternehmen geben könnten. Viele Unternehmen kommen wegen der Nullzinsphase derzeit ohnehin an günstiges Kapital, lohnt sich da überhaupt der Aufwand, für an Nachhaltigkeit orientierte Investoren attraktiv zu werden? Noch scheint der Weg weit, weil viele Unternehmen Soziales und Klimarelevantes noch nicht als Kern ihrer Unternehmensberichte sehen, sagte eine Teilnehmerin. Eine weitere offene Frage: Wie belohnt man Unternehmen, die noch zur alten, „braunen“ Wirtschaft gehören, aber auf dem Weg sind, das zu ändern? Auch dafür braucht es eine Klassifizierung. Für vieles gibt es bereits Lösungsansätze. Globale Nachhaltigkeitsstandards könnten sich aus den Empfehlungen der Task Force on Climate Related Financial Disclosures ableiten.
Auch zur Frage der sogenannten doppelten Materialität gab es unterschiedliche Auffassungen: Nach der müssen Unternehmen auf der einen Seite offenlegen, wie die Klimakrise ihre Geschäfte beeinflusst. Allein das sei schon kompliziert, merkten einige Teilnehmer an. Auf der anderen Seite sollen Unternehmen zusätzlich belastbare Zahlen dazu liefern, wie sie selbst zum Klimawandel beitragen oder die Gesellschaft sozial positiv oder negativ beeinflussen. “Überspannt das den Bogen?”, fragte eine Arbeitsgruppe – und regte pragmatisch an, einfach existierende Modelle, wie die ‚Principles for Responsible Investment‘ der Vereinten Nationen (VN), zu verwenden und zu schauen, wie weit man damit komme. Der RNE arbeitet derzeit mit dem Finanztechnologie-Start-Up Arabesque S-Ray an einer Open Data Lösung für ESG-Daten (als Daten zur Ökologie, zu Sozialem und zur Governance von Unternehmen), die sich aus dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex ergeben.
Pflicht oder Freiwilligkeit?
Man stelle sich vor, auf jedem Finanzprodukt steht künftig, inwieweit die Unternehmen oder Projekte, die damit finanziert werden, mit den internationalen Klimazielen kompatibel sind. Denkbar wäre ein Label wie bei Kühlschränken, regte ein Teilnehmer an. Umstritten war dabei besonders die Frage, ob Finanzakteure künftig verpflichtet werden sollen, solche Angaben zu machen – oder ob das freiwillig geschehen soll. Die derzeit von der EU erarbeitete Taxonomie, eine einheitliche Definition darüber, was nachhaltige Finanzprodukte sind, ist freiwillig anwendbar. Der Beirat hat sich hier noch nicht festgelegt. “Weder garantieren gesetzliche Regelungen das Erzielen einer beabsichtigten Wirkung noch sind Freiwilligkeitsansätze per se wirkungslos”, heißt es in dem Thesenpapier.
Ein “systemischer Ansatz” sei im Expertengremium insgesamt unbestritten, sagte Kristina Jeromin, die für die Deutsche Börse in dem neuen Beirat sitzt. Nachhaltigkeit solle sich also nicht nur auf eine Nische des Marktes beschränken. Systemisch ist nicht mit einer Verpflichtung gleichzusetzen, die Nachhaltigkeit von Finanzprodukten anzugeben. Vielmehr gehe es um eine Transformation des Finanzsystems aus der Dynamik des Marktes selbst, hieß es auf der Tagung. Nicht durch mehr, sondern andere Regulierung – der Satz war oft zu hören. So ergibt sich ein neues Narrativ, wie Unternehmen und Finanzmarktakteure zukunftsfest werden, die der gesellschaftlichen Dynamik für mehr Klima- und Umweltschutz folgt.
Führungsverantwortung und die Rolle der Bundesregierung
Aus dieser Überlegung heraus ergibt sich auch eine Verantwortlichkeit von Führungspersonal und Politik. “Die öffentliche Hand nimmt eine Schlüssel- und Vorbildfunktion in der nachhaltigen Transformation des Finanzsystems sowie der Realwirtschaft ein”, heißt es in dem Thesenpapier des Beirates. Der RNE wird in seiner Stellungnahme deutlicher: “Nachhaltigkeit muss zum Kriterium für die Festlegungen des Bundeshaushalts und damit zur Bemessungsgrundlage im Haushaltsausschuss und für die Rechnungshöfe werde”, fordert er. Georg Schürmann, Geschäftsleiter der Triodos Bank Deutschland, appellierte an die Politik, klarere Rahmenbedingungen zu schaffen: “Wir können nur finanzieren, was in der Realwirtschaft auch entsteht. Wir können keine Windräder finanzieren, wenn sie nicht gebaut werden, so wie 2019”, sagte er und betonte, wie wichtig es sei, dass die Realwirtschaft im neuen Expertengremium vertreten sei.
Die Finanzindustrie selbst könne aber auch klarere Signale an die Politik senden, sagte Karsten Löffler von der Frankfurt School of Finance & Management, zugleich Vorsitzender des Sustainable Finance Beirates. Er verwies auf die holländische Finanzindustrie, die sich öffentlich klar hinter die Klimaschutzpolitik der Regierung gestellt habe. “Das wäre ein starkes Zeichen, würde uns das auch in Deutschland gelingen”, sagte Löffler.
Matthias Kopp, beim WWF für Sustainable Finance zuständig und ebenfalls Mitglied des Beirates, forderte einen Impuls aus Deutschland, der die europäische Debatte befruchtet – schließlich habe Berlin bald die EU-Ratspräsidentschaft inne. “Mein Wunsch wäre, dass Deutschland von einer reaktiven in eine gestaltende Rolle kommt”, sagte Löffler. Ähnlich sah das Silke Stremlau: “Meine Idee ist, dass wir die Bundesregierung stärken und sagen: Wir, die Finanzindustrie, wollen eine höhere CO2-Bepreisung, wir wollen die SDGs [die globalen Nachhaltigkeitsziele der VN, A.d.R.] als Messlatte für künftige Finanzierungen.” Diesen Konsens herzustellen, dafür sei der Beirat gut.
Unumstritten war auf der Tagung die europäische und globale Ebene nachhaltiger Finanzmärkte. “Das ist ein multilateraler Prozess, in dem Europa eine echte Führungsrolle einnimmt”, sagte Pierre Ducret, Präsident der französischen Organisation ‚Finance For Tomorrow‘. Innerhalb der EU wiederum müssten einige Länder die Agenda voranbringen. Die Niederlande seien dazu prädestiniert, am wichtigsten sei aber eine alte Verbindung, die von jeher als Motor der europäischen Einigung gilt: “Wir brauchen eine starke bilaterale Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich”, so Ducret.