„Wir müssen uns zumuten, über das große Ganze zu sprechen. Über eine Transformation aller gesellschaftlichen Bereiche“, sagte Marlehn Thieme in ihrer Eröffnungsrede der RNE-Jahreskonferenz. „Denn das große Ganze ist unsere Zukunft.“
Das größte Passiv-Haus-Gebiet der Welt
Gleich das erste Panel nahm die Vorsitzende des RNE beim Wort und präsentierte Trends und Taten auf dem breiten Spielfeld der Nachhaltigkeitsdebatte. So stellte Solarphysiker Ralf Bermich, bei der Stadt Heidelberg zuständig für Energiepolitik, die ganzheitliche Transformation der Heidelberger Bahnstadt zu einem nachhaltigen Stadtteil vor. Vor Jahren noch Überreste eines ausgedienten Rangierbahnhofes, ist die Bahnstadt heute das größte Passivhaus-Gebiet der Welt, das seine Fernwärme komplett aus erneuerbaren Energien mit Holz- und Hackschnitzeln aus der Region gewinnt und Leben und Arbeiten auf moderne Art miteinander verbindet. Unter ganzheitlich versteht Bermich auch, die Bevölkerung auf seine Reise in die Zukunft mitzunehmen. Bei der Bahnstadt sei das ziemlich gut gelungen, immerhin würden 60 Prozent der Heidelberger das Energiekonzept der Bahnstadt kennen, sagte Bermich.
Städte ganzheitlich entwickeln
„Gemeinsam Orte schöner gestalten“, war das Thema von Roland Gruber vom Wiener Architekturbüro nonconform. „Wir erzeugen Zukunft live und versuchen, die Bürger anders als gewohnt in die Zukunft mitzunehmen“, sagt Gruber. Im Kern geht es aber um Grundfragen jeder Stadt: Wie wird ein Ort lebendig, wie finden sich die Bürger wieder?
Um das zu beantworten, entwerfen die Architekten nicht Konzepte an ihrem Schreibtisch, sondern entwickeln die Ideen vor Ort. Die Wiener packen ihr ganzes Büro ein und ziehen für ein paar Tage um. „Wir verwenden den Begriff Nachhaltigkeit nicht bewusst. Unsere Erfahrung zeigt, wenn man mit den Bürgerinnen und Bürgern Zukunftsaufgaben entwickelt, dann ergibt das automatisch einen sehr ganzheitlichen Ansatz. So werden viele unterschiedliche Aspekte berücksichtigt und so entstehen vernünftige, also nachhaltige Lösungen“, sagt Architekt Roland Gruber.
Sein Team und sich selbst sieht er vor allem als Übersetzer, der gute Ideen so transportiert, dass es den Menschen Spaß macht, Orte zu entwickeln. Nonconform arbeitet erst als Moderator, sammelt Ideen und wechselt dann in die Expertenrolle, um live vor Ort aus den oft tausenden Ideen und Wünschen der Beteiligten konkrete Projekte zu entwickeln.
Oft kommt etwas ganz anderes heraus als anfangs gedacht. In der saarländischen Gemeinde Illingen wurde aus einer leerstehenden Wurstfabrik im Stadtzentrum statt eines kompletten Abrisses nur ein Teilabriss. Die wertvollsten Gebäude sind teilweise erhalten und umgebaut, nur Teile wurden neu errichtet. Neben Büros und Wohnungen gibt es nun auch einen Marktplatz mit einer Open-Air-Veranstaltungsfläche und ein Pflegewohnheim mit betreutem Wohnen. „So bringen wir das süße Leben zurück in die Stadt.“ Bei seinen Workshops bricht Gruber regelmäßig mit Konventionen. Viele Beteiligungsprozesse würden von den Bürgern als fad und langweilig empfunden, sagt Gruber. Die Wiener arbeiten deshalb Monate im Voraus in den Städten, gehen zu Stammtischen, in Theater, in die Vereine und bereiten allmählich eine Art Ideenfestival vor: drei Tage verdichtetes Arbeiten vor Ort. „Mütze, Bier und Suppentopf sind dabei wichtige alltägliche Bausteine“, sagt Gruber.
Die Welt auf einem Acker
2000 Quadratmeter Ackerfläche – so viel Fläche bräuchte jeder Mensch, um sich nachhaltig zu ernähren. Möglich wäre das: „So viel stünde jedem von uns zu, würde man die gesamte agrarwirtschaftliche Nutzfläche unter der Menschheit gleichverteilen“, sagt Luise Körner, die die Bildungsinitiative Weltacker „2000m²“ mitentwickelt hat. Zum Vergleich: Jeder Europäer kommt umgerechnet auf eine Prokopf-Fläche von 2700m². Während des Projekts reifte schnell die Erkenntnis, dass – würde man das reale Anbauverhältnis auf dem Weltacker abbilden – allein ein Drittel des Ackers mit Getreide und fast der gesamte Rest mit Mais und Soja bebaut sein müsste, um Nutztiere für die Fleischproduktion füttern zu können.
Nun, es geht auch anders, vielfältiger und in ausreichender Menge. So können auf den 2000 Quadratmetern auch 8000 Kilogramm Kartoffeln oder 15000 Kilo Tomaten reifen. „Wenn man die Fläche sinnvoll aufteilt, wäre für alle genug da“, sagt Körner. Um diese Erkenntnis in die Welt zu tragen, exportiert sie ihre Idee zu Partnern nach Syrien, in die Türkei, nach Schottland, nach China und auf ihren eigenen Acker in Spandau auf dem Gelände der Internationalen Gartenschau, die 2017 in Berlin stattfindet.
Genügsamkeit und messbarer Konsum
Der Weltacker ist so etwas wie die kleinste wirtschaftliche Einheit, auf dem sich nachhaltiger Konsum abbilden lässt. Eine gemeinsame Idee zu entwickeln, wie wir nachhaltigen Konsum gesamtgesellschaftlich messen können, das hat sich Ingo Schoenheit, Leiter des imug Instituts in Hannover, in den Kopf gesetzt. Schoenheit ist einer der wichtigsten Meinungsführer für nachhaltigen Konsum in Deutschland, schon vor 15 Jahren hat das imug für den RNE den nachhaltigen Warenkorb entwickelt. „Ein wunderbares Instrument, um unseren Fortschritt zu messen“, sagt Schoenheit. Ziel sei es, daraus einen Index zu bauen, der den Anteil des nachhaltigen Konsums am Gesamtverbrauch transparent macht. Noch aber scheint der Widerstand der Politik zu groß für Schoenheits Ideen, schließlich sei die „Konsumfreiheit eine heilige Kuh, und die wandelt auf sehr dünnem Eis“. Dabei will Schoenheit die Konsumfreiheit gar nicht abschaffen, er will nur erreichen, dass wir genügsamer leben. Auch dafür hat er eine Messgröße gebaut, den Genügsamkeitsindikator, den er kürzlich in einem neuen Gutachten vorgestellt hat.
Nachhaltigkeit ins Grundgesetz?
Sollte Nachhaltigkeit im Grundgesetz verankert werden? Darüber sprach der Verfassungsrechtler Joachim Wieland, Professor an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Der RNE hat diese Frage im Rahmen der nationalen Umsetzung der Globalen Nachhaltigkeitsziele aufgeworfen und Wieland mit einem Rechtsgutachten zum Verfassungsrang für Nachhaltigkeit beauftragt, das kommende Woche veröffentlicht wird. Wielands bevorzugte Lösung wäre ein einfacher Satz, allerdings mit Gewicht: „Der Staat beachtet bei seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit“. Damit wäre der Nachhaltigkeitsbegriff im Grundgesetz gleichrangig neben dem Demokratie-, Bundesstaats, Sozial- und Rechtsstaatsprinzip.