Professor Björn Stigson war Präsident des Unternehmensnetzwerks World Business Council for Sustainable Development. Auf Einladung der Bundesregierung leitete er in den vergangenen Monaten eine unabhängige internationale Expertengruppe, die zum zweiten Mal nach 2009 die nationale Nachhaltigkeitsstrategie Deutschlands bewertete. Im Interview erklärt Stigson, welche Aufgaben in der Nachhaltigkeitspolitik noch auf die Bundesrepublik warten.
Welchen Eindruck haben Sie bei Ihren Besuchen von der deutschen Nachhaltigkeitspolitik gewonnen?
Björn Stigson: Deutschland spielt mit Sicherheit eine führende Rolle in der nachhaltigen Entwicklung und es hat in den vergangenen Jahren viele wichtige Schritte unternommen. Es gibt eine große Bereitschaft, nachhaltig zu handeln und es hat meine Kollegen und mich beeindruckt, dass Deutschland trotz der weltweiten Finanzkrise weiter vorangeschritten ist. Es kann noch stärker zu einem globalen Anbieter von Nachhaltigkeitslösungen werden. Das passt sehr gut zu Deutschlands Rolle als Exportnation und wichtigem Anbieter von grünen Technologien. Die EU als Ganzes hat auf dem Weltmarkt für grüne Technologien einen Marktanteil von 30 Prozent. Die Hälfte davon entfällt auf Deutschland, und im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten wächst die Wirtschaft hier noch.
Auf einem wichtigen Zukunftsmarkt, der Solarindustrie, hat aber inzwischen China die Führung übernommen.
Windindustrie und Elektromobilität könnten bald folgen. Die Welt befindet sich in einem grünen Wettbewerb. Die Volkswirtschaften konkurrieren darum, wer Lösungen für ressourcensparendes und Schadstoffe vermeidendes Wachstum anbietet. Wenn ich Politiker in den USA und auch hier in Europa berate, dann sage ich ihnen: Nachhaltige Entwicklung ist nicht nur eine Frage von Moral, sie ist auch eine Frage von Wettbewerb. Europa braucht in diesem Wettbewerb Führung, und deshalb finden meine Kollegen und ich, dass Deutschland eine aktivere Rolle in der EU übernehmen sollte. Die Rolle Deutschlands als Hafen Europas für die Märkte dieser Welt ist ein wichtiger Teil in der Erzählung der nachhaltigen Entwicklung.
Mit der Energiewende versucht Deutschland gerade, die Führung auf einem Gebiet zu übernehmen. Die Bundesregierung hat dafür bisher aber eher allgemeine Ziele formuliert, beispielsweise den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu senken. Wie müsste ein detaillierterer Plan für diesen sehr langen Prozess aussehen?
Ich weiß nicht, wie dieser Plan aussehen müsste, aber ich weiß, dass Deutschland keinen Plan hat. Politisch scheint das hierzulande sehr schwierig zu sein. Mir ist zum Beispiel im Bundeswirtschaftsministerium die Haltung begegnet, dass man keine Planwirtschaft wie in der Sowjetunion wolle. Ich habe den Beamten gesagt, dass es bei der nachhaltigen Entwicklung nicht um sozialistische Planwirtschaft geht. Aber wenn man Aufgaben dieser Größenordnung bewältigen will, braucht man einen Plan – eine Idee, wie es funktionieren soll. Man braucht außerdem eine stärkere Koordination. Wir haben festgestellt, dass es Deutschland an einer ausreichenden Abstimmung und einem „Grand Design“ mangelt.
Wie könnte ein solches „Grand Design” aussehen und wie könnte es der Öffentlichkeit am besten vermittelt werden?
Deutschland hat ein interessantes Werkzeug dafür, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Sie ist deshalb interessant, weil sie ein umfassendes Programm ist. Eine unserer Empfehlungen ist, schon heute mit den Arbeiten für die 2016 anstehende Revision der Nachhaltigkeitsstrategie zu beginnen. Auf diese Weise hat man drei Jahre Zeit für einen intensiven Dialog mit allen Betroffenen.
Eine weitere Empfehlung Ihrer Expertengruppe ist es, sich stärker um die Finanzierung der nachhaltigen Entwicklung zu bemühen. Seit dem Beginn der Finanzkrise 2009 sind die Investitionsmöglichkeiten selbst großer Unternehmen aber sehr angespannt. Wie können unter diesen Bedingungen die enormen Kapitalmengen für die Finanzierung der nachhaltigen Entwicklung aufgebracht werden?
Das ist die große Frage, das weiß im Moment niemand. Die Energiewende beispielsweise hat die großen Energiekonzerne wesentlich geschwächt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas. In der Vergangenheit waren sie das zentrale Element für neue Investitionen. Jetzt verändert sich ihre Rolle und sie können in keinster Weise mehr die gleiche Rolle wie früher für den Fortschritt in diesem Bereich spielen.
Wie könnte die Lösung aussehen?
Aus unserer Sicht gibt es nur eine sehr begrenzte Zusammenarbeit zwischen dem Finanzsektor und der Regierung darüber, wie der enorme Finanzbedarf für eine nachhaltige Entwicklung gedeckt werden kann. Ein zusätzliches Problem sind neue Kapitalmarktvorschriften der EU, die es zum Beispiel langfristig denkenden Pensionsfonds fast unmöglich machen, in Infrastruktur zu investieren. Es muss einen stärkeren Dialog zwischen dem Finanzsektor und der Regierung geben.
Der Dialog zwischen der Regierung und der Energiewirtschaft läuft inzwischen sehr intensiv. In Ihrem Bericht schlagen Sie für weitere Branchen Fahrpläne hin zu einer nachhaltigen Entwicklung vor. Wie könnten diese das „Grand Design“ ergänzen?
Diese Fahrpläne sollen den langfristigen strategischen Rahmen setzen: Wie sieht die Regierung den Energiesektor? Wie sieht sie die Automobilwirtschaft? Wie die Chemiebranche? Welche Verknüpfungen gibt es zwischen diesen branchenspezifischen Plänen? Wenn man beispielsweise eine starke Chemieindustrie in Deutschland will, braucht man auch eine hochwertige Stromversorgung.
Die Eigeninitiative der Wirtschaft zeigt sich vor allem am Wuchern der Nachhaltigkeits-Labels. Helfen sie den Konsumenten oder sind sie bloßes Greenwashing?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Hersteller sich lediglich reinwaschen wollen. Sie versuchen zu informieren; das Problem ist, dass es so viele unterschiedliche Arten dafür gibt. Schon 2009 hat uns das Verbraucherschutzministerium gesagt, dass es in Deutschland über 1000 Nachhaltigkeits-Labels gibt. Sich in einem solchen System nachvollziehbar zu informieren, ist unmöglich. Es ist eigenartig, dass Deutschland seine eigenen Labels haben kann, ohne stärker auf europäische Regeln achten zu müssen. Das ist eine Aufgabe, die wirklich in einer EU-Plattform gelöst werden muss.
Kommen wir noch zu einer anderen Herausforderung, dem demografischen Wandel. Um diesem zu begegnen, empfehlen Sie längere Lebensarbeitszeiten und freiwillige Jobs für Rentner. Steht das nicht im Widerspruch zu den sozialen Aspekten der Nachhaltigkeit?
In Deutschland wird die Erwerbsbevölkerung bis 2025 um 6,5 Millionen Menschen zurückgehen. Das ist ein ernstes Problem. Diese Menschen sind erfahren und hochqualifiziert, ihre Stellen werden aber nicht neu besetzt werden können. Wo bekommt man also 6,5 Millionen qualifizierte Beschäftigte her? Eine ganze Reihe von Maßnahmen ist nötig, zum Beispiel ein späteres Renteneintrittsalter und eine veränderte Familienpolitik. Man braucht eine höhere Zuwanderungsrate und eine entsprechende Integrationspolitik. Wenn man keine Antworten auf den demografischen Wandel findet, werden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden.
Das Interview führte Manuel Berkel.