Wie steht es um die Agenda 2030 der Vereinten Nationen? Liest man den diesjährigen Fortschrittsbericht zu den 17 SDGs, den nachhaltigen Entwicklungszielen der Weltgemeinschaft, lautet die Antwort: schlecht: „Jahre oder gar Jahrzehnte von Entwicklungsfortschritten sind unterbrochen oder komplett dahin“, schreibt der Ecosoc, der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen in seinem neuen Fortschrittsbericht. Schuld sei vor allem die Corona-Pandemie, aber auch immer mehr Kriege und der Klimawandel wirkten sich aus. Die Vertreter*innen der UN-Mitgliedsstaaten zeigten sich auf dem High Level Political Forum (HLPF), dem jährlichen UN-Nachhaltigkeitsgipfel im Juli in New York, in ihrer Abschlusserklärung „alarmiert“.
Besonders Frauen und Kinder leiden unter der Pandemie, schreibt der Ecosoc. Mehr als 100 Millionen Kinder haben wichtige Lernziele verfehlt, diese Generation könnte über ihre Lebensspanne gerechnet 17 Billionen Dollar weniger Einkommen erzielen. Frauen haben besonders viele Arbeitsplätze verloren, betreuten unbezahlt Kinder und alte Menschen und litten unter häuslicher Gewalt. Die deutsche Delegation hat deshalb ihren Schwerpunkt auf dem HLPF auf das SDG 5 gelegt, das fünfte nachhaltige Entwicklungsziel: die Gleichstellung der Geschlechter. „Wir werden die anderen SDGs nicht umsetzen können, wenn wir Frauen und Mädchen nicht empowern“, sagte die deutsche UN-Botschafterin Antje Leendertse zu Beginn einer hochrangig besetzten Diskussionsrunde der deutschen Delegation. Es ging in der Debatte um drei wesentliche Aspekte. Der erste ist, dass Geschlechtergerechtigkeit fundamental ist. „Geschlechtergerechtigkeit ist nicht etwas Zusätzliches, etwas Nettes, das man auch haben will. Es geht um Menschenrechte für alle, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem Geschlecht“, sagte Bärbel Kofler, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Der zweite Aspekt ist, dass Frauen weltweit überproportional stark von Armut und Gewalt betroffen sind, ebenso wie von den Auswirkungen des Klimawandels oder des Verlusts an Biodiversität. Ein Beispiel, warum das so ist, führte Renata Koch Alvarenga an, Gründerin der brasilianischen NGO Empoderaclima: Mangelt es beispielsweise in Schulen an sauberem Wasser und Toiletten, was vor allem in ärmeren Regionen der Fall ist, dann gehen junge Frauen oft nicht zur Schule, wenn sie ihre Periode haben. Entsprechend schlechter fällt die Bildung im Vergleich zu der von Jungen aus. Das Beispiel zeigt auch, wie sich verschiedene SDGs wechselseitig bedingen: ohne Trinkwasser und sauberen sanitären Einrichtungen, SDG 6, keine Geschlechtergerechtigkeit, SDG 5.
Alvarenga machte auch auf den Aspekt der Intersektionalität aufmerksam – manche Frauen sind von mehreren Formen der Diskriminierung betroffen. So leiden schwarze oder indigene Frauen zusätzlich unter Rassismus und struktureller, historisch bedingter Armut. In Brasilien etwa stieg der Anteil der schwarzen Frauen, die unter der Armutsgrenze leben, während der Pandemie von 33 auf 38 Prozent – bei weißen Frauen von 15 auf 19 Prozent. Schwarze und Indigene finden auch weniger Gehör: „Wir haben sehr viele beeindruckende indigene und schwarze Frauen, die aber oft nicht Teil von Veranstaltungen wie dieser hier sind, wegen Sprach- und Bildungshürden“, sagte Alvarenga.
Besonders Frauen von der Klimakrise betroffen
Auch die indische Publizistin und Umweltschützerin Sunita Narain zeigte, wie verschiedene SDGs zusammenhängen, und wie besonders Frauen unter der Klimakrise und der Pandemie leiden. Narain ist Leiterin des Centre for Science and Environment in Neu-Delhi. Das Time Magazine zählte Narain 2019 zu einer der 15 einflussreichsten Frauen weltweit im Kampf gegen den Klimawandel. „Always think of the last person“, zitierte sie Mahatma Gandhi. Wenn sich Narain diese letzte Person vorstellt, dann sieht sie das Gesicht einer armen Frau, sagte sie. Wie sich die Energiekrise auf diese Frauen auswirkt, zeigte sie anhand ihrer Heimatstadt Neu-Delhi: Dort kochten viele arme Frauen mit Feuerholz oder verbrennen Müll über offenen Feuerstellen. Der resultierende Smog ist einer der Hauptgründe für die schlechte Luft in der Stadt.
„Die Frauen wissen, wie schlecht das für ihren Körper ist, haben aber keine andere Wahl. Wie können ihre Energierechte gesichert werden?“, fragte Narain. Bezahlbare und saubere Energie, SDG 7, ist also ebenso ein Faktor für Geschlechtergerechtigkeit. Die Transformation dahin müsse viel entschiedener vorangetrieben werden, sagte Narain, der Klimawandel gefährde das Leben der ärmsten Menschen. „Sie haben keine Wahl, als vom Land in die Stadt zu ziehen und von dort in andere Länder – das ist die Migrationskrise unserer Tage“, sagte sie. Das trifft zwar arme Männer wie arme Frauen. Doch wegen der Migration nimmt der Menschenhandel zu, wovon insbesondere junge Frauen und Mädchen gefährdet sind.
Der dritte Aspekt, warum ohne Geschlechtergerechtigkeit die SDGs nicht zu erfüllen sind: Frauen werden gebraucht, um die Transformation zu schaffen. „Wir würden so sehr davon profitieren, wenn die Erfahrungen und Prioritäten von Frauen und Mädchen ernst genommen würden und wenn Frauen und Mädchen aus allen Ländern ungehindert helfen könnten, die SDGs zu erreichen “, sagte Bettina Hoffmann, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Männer und Frauen nehmen ihre Umwelt anders wahr und beeinflussen sie anders, so Hoffmann.
In Deutschland sind etwa Fridays for Future hauptsächlich von Frauen geprägt und auch in anderen Ländern kämpfen besonders Frauen für die Lebensgrundlagen künftiger Generationen: In Brasilien etwa sind achtzig Prozent der Umweltschützer*innen weiblich, sagte Ana Toni, Direktorin der Umweltschutzorganisation Instituto Clima e Sociedade.
Feministinnen und Feministen an die Macht
Was also tun, um die Situation zu verbessern? Einer der zentralen Aspekte ist Bildung: Dabei geht es nicht nur darum, Mädchen die gleiche Schulbildung wie Jungen zu ermöglichen. Geschlechterparität bedeute nicht gleich Geschlechtergleichheit, sagte Antara Ganguli, Direktorin der UN Girls’ Education Initiative. In vielen Ländern, in denen genauso viele Mädchen wie Jungen zur Schule gingen, würden es viele Schüler*innen in Umfragen trotzdem als normal ansehen, dass Männer Frauen schlagen dürfen. „Schulen müssen Orte sein, wo Kinder lernen, andere Erwachsene zu sein als die, die wir heute sind“, sagte Ganguli.
Es geht also um feministische Bildung, um die Vermittlung fundamentaler Werte. Auch für Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau definieren. Auch deren Rechte versuche man, weltweit in Lehrplänen zu verankern, sagte Ganguli. „Das bringt uns oft in eine schwierige Position“, ergänzte sie. Denn viele Staaten würden die Rechte dieser Menschen nicht anerkennen. Hier brauche es Führung durch einflussreiche Persönlichkeiten, um etwas zu verändern.
Für Frauen in Unternehmen oder in der Politik gilt das Gleiche wie in Schulen – Quote allein ist zu wenig. „Es reicht nicht, Frauen an der Macht zu haben, wir brauchen feministische Frauen an der Macht“, sagte Anita Bhatia, Deputy Executive Director, UN Women. Dabei seien auch Männer gefragt – sie müssten genauso für Geschlechtergleichheit eintreten wie Frauen. „Wir brauchen den politischen Willen dazu, die Gewalt gegen Frauen zu einem globalen Gesundheitsnotstand zu erklären“, ergänzte Bhatia. Staaten weltweit müssten ihre Programme zum Ankurbeln der Wirtschaft besonders auf Frauen fokussieren, forderte sie. Auch der Privatsektor müsse sich ändern: Wenn Unternehmen mehr Profit machten als die Wirtschaftsleistung ganzer Staaten, dann müssten die Maßnahmen dieser Unternehmen für Geschlechtergleichheit gemessen und überwacht werden, sagte Bhatia.
Ideen sind also da, doch die Welt ist nicht auf dem Pfad für Geschlechtergerechtigkeit bis 2030, sie bewegt sich rückwärts, schreibt Ecosoc. Angesichts dessen bleibe vor allem eins, so die Moderatorin Pamela Chasek, Politik-Professorin am Manhattan College: Selber hart an der Veränderung zu arbeiten. Das gilt für Frauen wie Männer.