Nachhaltigkeit braucht neues soziales Denken (oder: Nicht nur über Bergbauarbeiter reden, auch über die Töchter)

Wie lassen sich mehr Bürgerinnen und Bürger für Maßnahmen etwa zum Klimaschutz gewinnen? Indem das Soziale anders als bisher von vornherein mitgedacht wird, meinen die 140 Teilnehmenden auf der RENN.west-Jahrestagung in Ingelheim – und entwickeln Vorschläge.

Der notwendige gesellschaftliche Wandel werde viel zu oft allein ökologisch begründet. Das stärke Rechtspopulisten und jene, die große Investitionen in eine zukunftsfähige Infrastruktur verhindern wollten. „Das fällt uns zunehmend auf die Füße“, sagt Alexander Carius von adelphi. Der Berliner Think Tank hat unlängst untersucht, wie die 21 stärksten rechten Parteien in Europa zu Klima- und Umweltschutz stehen. Wer vorankommen wolle, so Carius weiter, müsse Angebote machen, „Bilder erzeugen, wie eine lebenswerte Welt in der Zukunft aussehen kann“. Für ihn heißt das beispielsweise: „Nicht nur über den Bergarbeiter in der Lausitz reden, sondern auch darüber, wie das Leben der Tochter aussehen kann“ – mit Co-Workingspaces, Mehrgenerationenhäusern, E-Mobilität, neuen Kultur- und Freizeitangeboten und mit höherer Lebensqualität, durch saubere Luft, bessere Gesundheit für alle, unzerstörte Natur und Artenvielfalt.

Anfang September hat RENN.west, eine der vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien, in das Weiterbildungszentrum Ingelheim bei Mainz zur Jahrestagung geladen. 140 Gäste sind gekommen. Das Thema: „Soziale Gerechtigkeit innerhalb der planetaren Grenzen“. Dahinter steckt die entscheidende Frage: Warum gewinnen jene an Zulauf, die beispielsweise den Klimawandel leugnen, Maßnahmen gegen die Erderwärmung ablehnen – und was lässt sich ihnen entgegensetzen. Bislang ist selten so konstruktiv darüber debattiert worden.

Gute Argumentationen gefragt

Dabei sind die Bremser lautstark geworden. Bei den Landtagswahlen Anfang September in Brandenburg und Sachsen hat die AfD in den Lausitzer Wahlkreisen die meisten Zweitstimmen bekommen. In Frankreich sind die Gelbwestenproteste an der Frage höherer Spritpreise entbrannt. Und in Brasilien ist der rechtsextreme Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt worden, der damit warb, das riesengroße Amazonasgebiet für die wirtschaftliche Ausbeutung freizugeben. Ihnen allen gelten die Maßnahmen gegen den Klimawandel als schädlich für die nationale Wirtschaft – und als sozial ungerecht.

Mehr denn je sind gute Argumentationen gefragt. Denn in den nächsten Wochen stehen „große politische Entscheidungen“ an, erklärt Michael Frein, der im Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz für Nachhaltigkeit zuständig ist. Am 20. September entscheidet das Klimakabinett. Am 21. September beginnt der VN-Klimagipfel in New York. Auf den folgt am 24. September der SDG-Summit, der Nachhaltigkeitsgipfel, bei dem Staats- und Regierungschefs klären sollen, wie es um die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung steht. Und im November beginnen, nach einem Auftakt in Berlin, die ersten Regionalkonferenzen zur Fortschreibung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2020. Wir müssen wieder in die planetaren Grenzen kommen“, mahnt Frein „wir sind schon raus“.

Erst Anfang August warnte zum Beispiel das World Resources Institute, WRI, vor einer Wasserkrise. Millionenstädte wie die peruanische Hauptstadt Lima stehen demnach unter extremen „Wasserstress“. In Bangladesch, einem der am dichtesten bevölkerten Staaten der Erde, ist immer wieder Land unter. Steigt der Meeresspiegel infolge des globalen Klimawandels an, würden Millionen Einwohner an der Küste ihr Zuhause verlieren. „Wir haben eine Mitverantwortung“, meint Barbara Mittler vom Entwicklungspolitischen Landesnetzwerk Rheinland-Pfalz (ELAN) e.V., Partner im RENN.west-Netzwerk.

Umsetzung in sechs Punkten

Wie sich diese Verantwortung umsetzen lässt? Michael Hauer von der Energieagentur Rheinland-Pfalz plädiert dafür, sich auch in der Nachhaltigkeitsszene immer wieder einem „Controlling zu unterziehen“, sich zu fragen, was hat was gebracht, wer bringt welches Potenzial ein – und nicht „im eigenen Saft zu schmoren.“ Christiane Overkamp, Geschäftsführerin der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen, macht sechs entscheidende Punkte aus.

Erstens: Die soziale Frage nicht länger in den Hintergrund stellen – und die von Kate Raworth entwickelte „Donutökonomie“ verinnerlichen, bei der der äußere Kreis des Donuts die ökologischen Grenzen wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Bodenerosion markiert und nicht überschritten werden dürfen. Der innere Kreis steht für das soziale Fundament, den Zugang zu Nahrung und Wasser, politische Teilhabe, ein Dach über dem Kopf. Es gehe darum, so Overkamp, sich von den bisherigen, eher technokratischen Ansätzen zu verabschieden, die die soziale Realität in den Gesellschaften ignoriert hat.

Sich in Ehrlichkeit üben, sei das Zweite, erklärt Overkamp. Diejenigen, die am wenigsten zu den Umweltproblemen beitragen, weil sie etwa am wenigsten konsumieren, seien oft von den sozialen Konsequenzen der großen Transformation besonders betroffen. Nicht sie müssten ihre Gewohnheiten ändern, „sondern die anderen“. Drittens gelte es, Ängste ernst zu nehmen. Beim Kohleausstieg fürchteten die Betroffenen nicht nur Job und Geld zu verlieren, sondern auch Kollegen, sozialen Status und Identität.

Und – viertens – sollten jene, die die Entscheidungen treffen, keine Scheu haben, Menschen einzubeziehen. Würden die Menschen in verbindlichem professionellem Rahmen beteiligt, nähme es ihnen auch Ängste. Dialog dauere, sei aber essenziell. Menschen – fünftens – müssten und könnten Wandel lernen. Die Bildung für nachhaltige Entwicklung gebe gute Leitlinien vor.

Zudem ruft Overkamp – sechstens – dazu auf „das eigene Milieu zu hinterfragen“ und bezieht sich auf die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch, die sich mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus auseinandergesetzt hat. Für Koppetsch bildet das kreative, global agierende Bürgertum eine Elite, die bei aller politisch proklamierten Inklusion und Vielfalt ein Höchstmaß an Exklusivität befördert, während die entmachteten Eliten – altmodisch Gebildete, Familienväter oder Ostdeutsche mit zum zweiten Mal entwerteten Biografien – Deklassierung spüren.

Politisch-gesellschaftlicher Kraftakt nötig

Ohne einen politisch-gesellschaftlichen Kraftakt wird die große Transformation nicht gehen – das wurde auf der RENN.west Jahrestagung sehr deutlich. Je direkter, konkreter, verbindlicher der Wandel angepackt wird – umso besser. RENN.west startete denn auch eine Kampagne „Ziele brauchen Taten” und zeichnete zehn Preisträger*innen des „Projekt Nachhaltigkeit 2019“ aus der RENN.west-Region aus.

Die Teilnehmenden in Ingelheim schlugen zum Beispiel vor, Nachhaltigkeit in der Verfassung festzuschreiben und die Divestment-Bewegung, die Investitionen aus unethischen Industrien abziehen will, zu fördern. Auch weitere Klimaklagen wie sie der Hamburger Rechtsanwalt Séverin Pabsch voranbringt, könnten aus ihrer Sicht eine entscheidende Rolle spielen, an denen sich die Folgen der Erderwärmung gut erzählen lassen. Gefragt sind viele.

Ihnen würde oft zu viel Elan vorgeworfen, berichtet Susanne Speicher, Sprecherin Fridays for Future Saarland, man müsse einen Mittelweg finden, sagten Politiker dann. Das halte sie aber nicht ab. Sie schlägt vor, eine Debatte auch innerhalb von Familien zu führen. „Der Onkel sagt dann, er isst kein Fleisch mehr, weil die Nichte erzählt hat, was es für sie für die Zukunft bedeutet.“ Es sei wichtig, die emotionale Ebene zu erreichen.

Adelphi-Forscher Carius sagt es so: „Der sozial-ökologischen Transformation fehlt es an Ästhetik, Kultur, Kunst, Musik.“ Bislang. Die Frage, wie sich Nachhaltigkeit und Soziale Gerechtigkeit stärker zusammendenken lassen widmet der Umweltcampus Birkenfeld eine Vortragsreihe. Sie wird per Livestream abrufbar sein und die Basis für weitere Diskussionen legen.