Nachhaltigkeitsgipfel in Zeiten des Kriegs

Drei Jahre Pandemie, Krieg in der Ukraine – noch nie schien die Agenda 2030 so utopisch wie heute. Nun trifft sich die internationale Staatengemeinschaft zu ihrem jährlichen Nachhaltigkeitsgipfel in New York. Und will weiter kämpfen für ihren Plan, die Welt zu einer besseren für alle zu machen.

Kaum jemand, der sich mit der globalen Nachhaltigkeitsagenda beschäftigt, gibt sich noch irgendwelchen Illusionen hin. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen, formuliert in der Agenda 2030, rücken derzeit in immer weitere Ferne. „In den 75 Jahren seit der Gründung der Vereinten Nationen musste sich die Menschheit noch nie solchen Herausforderungen stellen wie derzeit“, sagt die britische Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Thandiwe Newton gleich zu Beginn des offiziellen UN-Videos des diesjährigen High-Level Political Forum, kurz HLPF oder auf Deutsch: Hochrangiges Politisches Forum für Nachhaltige Entwicklung.

Einmal im Jahr kommen dabei im UN-Gebäude in New York Staats- und Regierungschefs und Vertreter*innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen, um die Fortschritte bei der 2015 von der Vereinten Nationen beschlossenen Agenda 2030 zu beurteilen. Das Treffen vom 5. bis zum 15. Juli ist in diesem Jahr in mehrfacher Hinsicht besonders: Zum ersten Mal nach zwei Jahren findet es wieder hauptsächlich vor Ort statt und nicht per Videoschalte. Der Fokus des HLPF soll darauf liegen, wie sich die Welt von der Pandemie erholen kann, und zwar so, dass damit die Veränderungen zur Umsetzung der SDGs angestoßen werden.

Außerdem ist es ein Treffen inmitten multipler Krisen. Die emotionalen Bilder des Konferenzfilmes zeigen, was damit gemeint ist: Klimawandel, Abholzung, Verlust von Biodiversität, Krieg, Pandemie. Die Fakten dahinter listet der Bericht des UN-Generalsekretärs zum HLPF nüchtern auf: Bis zu 95 Millionen Menschen sind durch die Pandemie in absolute Armut gerutscht, 100 Millionen Kinder haben nicht richtig lesen gelernt. Noch nie seit 1945 gab es so viele bewaffnete Konflikte wie heute, zwei Milliarden Menschen leben in Staaten, die davon betroffen sind. 2020 hungerten 161 Millionen Menschen mehr als 2019 – und jetzt könnte der russische Angriffskrieg die Lage noch verschlimmern: Russland und die Ukraine stehen für 30 Prozent der weltweiten Weizenversorgung und 50 Prozent des Sonnenblumenöls.

Kein Gipfel der Resignation

Doch der Gipfel in New York soll kein Gipfel der Resignation werden, sondern einen Neustart bringen. Gemeinsam könne man die Probleme lösen, sagt Newton – und setzt damit den Ton, dem sich viele anschließen. „Die globale Nachhaltigkeitspolitik muss wegen des russischen Angriffskriegs und seiner globalen Folgen neu gedacht werden“, sagt Marc-Oliver Pahl, Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung.

Denn obgleich die 2015 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele in der jetzigen Lage utopisch erscheinen – weltweit keine Armut und kein Hunger mehr bis 2030, Gleichstellung der Geschlechter, Ökosysteme bewahren, um nur einige zu nennen: Die SDGs sind zugleich ein Kompass aus der Krise. Darauf hat der RNE bereits im Mai in einer Stellungnahme aufmerksam gemacht. Auch wenn sich strukturelle Armut durch den Krieg und seine Folgen verschärfen wird – gerade jetzt müssten sich alle Entscheidungsträger*innen in Regierung und Opposition, Wirtschaft und Gesellschaft auf Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Klimaneutralität ausrichten, heißt es darin. Und gerade jetzt zeige sich, wie wichtig es ist, schnell die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen – und damit von russischem Erdgas – zu überwinden. „Wir brauchen nun noch mehr Mut, um mit großer Geschwindigkeit die Transformation zu meistern, und einen politischen Geist, der Umsetzung und Pragmatismus honoriert“, schreibt der RNE.

Das HLPF ist das richtige Forum, um diesen Mut zu fassen. Beobachter hoffen, dass die Lücken und Probleme in Sachen Agenda 2030 schonungslos angesprochen werden – UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat das bereits im vergangenen Jahr getan und wird kaum etwas beschönigen. Das HLPF ist auch ein Forum, in dem Staaten und Zivilgesellschaft weltweit voneinander lernen sollen. Auch deshalb stellen dort Staaten ihre Berichte zur Implementierung der Agenda 2030 in ihrem Land vor, sie werden voluntary national review oder VNR genannt. Einige Staaten haben diese Berichte zum ersten Mal verfasst – und hinter jedem steht ein Prozess in einem Land, der nachhaltige Entwicklung voranbringt.

Die Veranstaltungen des RNE

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den deutschen VNR im vergangenen Jahr, als das Treffen primär virtuell stattfand, persönlich per Videoschalte vorgestellt. In diesem Jahr wird Deutschland auf Staatssekretärsebene vertreten sein und in seiner offiziellen Veranstaltung einen besonderen Fokus auf feministische Außenpolitik legen. Auch der RNE veranstaltet zwei Events, gemeinsam mit Partnern des Global Forum for National SDG Advisory Bodies. Das Forum ist ein weltweites Netzwerk, in dem sich Nachhaltigkeitsräte und ähnliche Organisationen austauschen, die in ihren jeweiligen Ländern ein Mandat haben, nachhaltige Entwicklung voranzubringen.

Eine Veranstaltung am 12. Juli beschäftigt sich mit der komplexen Frage, wie in verschiedenen Staaten Institutionen aufgebaut werden können, die dauerhaft an einer Nachhaltigkeitspolitik arbeiten und dabei verschiedene Akteure vereinen – von der Zivilgesellschaft bis zur Wirtschaft.

In der zweiten Veranstaltung am 14. Juli geht es um Kommunen – die spielen bei der Umsetzung der Agenda 2030 eine entscheidende Rolle. Mittlerweile gibt es sogenannte voluntary local reviews (VLR), Berichte auf lokaler Ebene, mit denen auch Kommunen ihre Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030 prüfen können. Auf der Veranstaltung werden das kolumbianische Pereira und das deutsche Bonn ihre VLRs präsentieren.

Damit will der Rat auch zeigen: Die Agenda 2030 ist keine Sache der Staaten, sondern eine zwischen den Staaten und ihren Zivilgesellschaften auf allen Ebenen. „Wir brauchen neue Kooperationsstrukturen zwischen den Staaten, die nachhaltige Entwicklung, Klimaschutz und Biodiversität weiter voranbringen wollen, aber auch verstärktes Engagement der Unternehmen, der Zivilgesellschaft und der Kommunen“, sagt Marc-Oliver Pahl – und hofft auf neue Impulse durch das diesjährige HLPF.