Deutschland brauche eine neue, „eine nachhaltige Innovationskultur“. Das fordern drei Mitglieder des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE): Neben dem Vorsitzenden Dr. Werner Schnappauf, der schon bayerischer Umweltminister und Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie war, sind das die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Wissenschafts- und Politikberaterin Ulla Burchardt und der Präsident des Naturschutzbundes NABU, Jörg-Andreas Krüger.
Sie alle haben kürzlich ein vierseitiges „Ideenpapier“ mit dem Titel „Eine offene Innovationskultur für eine nachhaltige Zukunftsvorsorge“ mit unterzeichnet. Darin stecken Empfehlungen für die Bundesregierung. Das Dokument ist in zwei Dialogen mit allen gesellschaftlichen Gruppen entstanden, koordiniert vom Hightech-Forum, ein 20-köpfiges Gremium aus Expertinnen und Experten, das die Bundesregierung bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Hightech-Strategie 2025 berät. Zweimal hat sich das Hightech-Forum mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft und Politik getroffen, darunter auch die drei Ratsmitglieder. Ihnen allen geht es um einen Perspektivwechsel – und das Ende eines alten Streits.
In der deutschen und europäischen Gesetzgebung zu Umwelt- und Verbraucherpolitik ist bisher das „Vorsorgeprinzip“ verankert, aber nicht ein „Innovationsprinzip“. Das ist zwar im Forschungsprogramm „Horizon Europe“ für die Jahre 2021 bis 2027 erstmalig genannt worden, einen rechtlichen Stellenwert hat es damit aber nicht. Nach dem Vorsorgeprinzip müssen Firmen, die ein neues Produkt oder Verfahren auf den Markt bringen wollen, nachweisen, dass es keine Schäden für Mensch und Umwelt gibt. Gibt es begründete Bedenken, können Behörden und Regierungen Auflagen machen. Nur: Ist das zu einseitig? Führt das zu übermäßiger Vorsicht und verleitet dazu Chancen einer Innovation nicht zu erkennen? Wird Fortschritt gar verhindert, das Tempo gedrosselt? Um die Antworten wird seit Jahren gerungen.
Neue Fehlertoleranz
Einigkeit herrschte in der Debatte bislang im Grunde nur darüber, dass Innovationen nötig sind, um etwa dem Klimawandels oder dem Plastikmüll etwas entgegenzusetzen. Anders gesagt: Der notwendige nachhaltige Umbau der Gesellschaft, lässt sich nur meistern, wenn Unternehmen, Kommunen, die Gesellschaft Neues wagen. Vor diesem Hintergrund und aufgrund der dynamischen wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung bereits 2018 eine Debatte zu „Vorsorge und Innovation“ angestoßen – und wird diese fortführen.
Das Hightech-Forum habe mit seinem Dialogprozess nun einen neuen Ansatz, eine Brücke ausgelotet, sagt RNE-Mitglied Burchardt, die sich seit Jahren mit der Technologiefolgenabschätzung beschäftigt. Sie sagt: „Der Prinzipienstreit war immer falsch. Das Vorsorgeprinzip selbst ist Impulsgeber für Innovationen, es hat Innovationen nie in Frage gestellt. Wir brauchen sie. Vorsorge bedeutet dabei nachhaltig zu handeln.“ Das heißt, so Burchardt weiter: „Wir dürfen nicht alles tun, was wir können. Stattdessen müssen auch neue Technologien daraufhin bewertet werden, welche Folgen sie haben für soziale Teilhabe, für die Umwelt, für die nachfolgenden Generationen.“ Anders gesagt: Stimmt die Richtung, bringt eine Innovation Nachhaltigkeit voran.
Im Ideenpapier findet sich das Wort Innovationsprinzip gar nicht. Darin steht nun aber ausdrücklich, dass Vorsorge und offene Innovationskultur sich nicht ausschließen: „Offenheit bedeutet, auszuprobieren und Fehler machen zu dürfen. Vorsorge bedeutet, dies unter transparenten und verantwortbaren Rahmenbedingungen tun zu können.“ Die Unterzeichnenden fordern die Bundesregierung für eine „offene Innovationskultur“ zu Dreierlei auf.
Erstens: „Raum für Experimente schaffen“. Unter dieser Überschrift heißt es weiter: „Wenn die Bundesregierung Experimentierräume breit und vielfach fördert, können diese Forschungs- und Entwicklungsprozesse sowie die Anwendung beschleunigen, flexibilisieren und bürokratisch entlasten.“
Staat mit Vorbildfunktion
Zweitens: „Das Zusammenspiel von lokaler und internationaler Ebene stärken“. Denn eine offene Innovationskultur sei „ein europäisches Gemeinschaftswerk“. Dazu gehörten internationale Partnerschaften, aber auch Kommunen und Regionen müssten „als starke Innovationsakteure für eine nachhaltige Entwicklung“ befähigt werden, etwa durch „Investitionen und niedrigschwellige Fördermöglichkeiten“.
Drittens: Es sollen – RNE-Mitglied Burchardt hält das für „besonders entscheidend“ – „Systeminnovationen in den Fokus rücken“ und die Bundesregierung „die Zusammenarbeit über Sektoren- und Disziplingrenzen hinweg stärken. Sowohl innerhalb der öffentlichen Verwaltung als auch mit neuen, externen Akteuren.“ In der Corona-Pandemie habe sich gezeigt: „Innovationen wie die rasant entwickelten Impfstoffe bieten Lösungen für Herausforderungen an.“ Der Staat müsse den Rahmen für deren Einsatz setzen. Er könne Probleme lösen, „wenn er zugleich seine Vorbildfunktion, zum Beispiel für nachhaltige Beschaffung, einnimmt, agil handelt und auch über etablierte Interessen hinweg mutig den Ausstieg aus nicht nachhaltigen Strukturen, Technologien, Prozessen und Gewohnheiten in Gang setzt“.
Zu guter Letzt findet sich im Ideenpapier eine Empfehlung, die der Rat für Nachhaltige Entwicklung, auch ausdrücklich an eine kommende Bundesregierung stellt: Sie möge die „Überarbeitung der Wohlstandsindikatorik konsequent weiterverfolgen und die Umsetzung forcieren.“ Sie sei der „Hebel zur Erfolgsmessung einer nachhaltigen Innovationspolitik“. Denn, so erklärt Burchardt: „Eine gute Innovationspolitik zeichnet sich nicht nur durch eine große Zahl von Patenten aus. Vielmehr geht es darum, ob sich mit ihr die Herausforderungen der Zeit meistern lassen.“