Als in den 1990er Jahren ein Kölner Arbeitskreis die Idee einer autofreien Siedlung entwickelte, sei das noch als „Kampfansage an den Mainstream” verstanden worden, erzählt Hans-Georg Kleinmann vom Siedlungsverein „Nachbarn60“. Inzwischen hat sich die öffentliche Meinung gedreht, der Pionier-Charakter des „Stellwerk60“ in Köln-Nippes findet immer mehr Anerkennung. Eben erst wurde sie von RENN.west, einer der vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN), als „Transformationsprojekt“ ausgezeichnet – als Idee also, die besonders hohes Potenzial zur gesamtgesellschaftlichen Transformation und zur Inspiration anderer Akteurinnen und Akteure hat. Die Auszeichnung, die Teil des Wettbewerbs „Projekt Nachhaltigkeit“ ist, wird von den vier RENN in Kooperation mit dem Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) vergeben.
Interessierte Investorinnen und Investoren
Hans-Georg Kleinmann war fast von Anfang an dabei, heute ist er Vorstandsmitglied des Siedlungsvereins „Nachbarn60“. „Spätestens seit Greta”, so sagt er, habe sich das gesellschaftliche Bewusstsein nach und nach gewandelt. Das merken er und seine Nachbarinnen und Nachbarn auch daran, dass immer mehr Interessierte das ehemalige Eisenbahngelände rund 2,5 Kilometer nördlich der Kölner Innenstadt besuchen und sich darüber informieren, wie autofreies Wohnen funktionieren kann. „Früher hatten wir mehr Anfragen aus dem Ausland als aus Deutschland”, sagt Kleinmann. Auch das habe sich geändert.
Mit ihren 440 Wohneinheiten – von kleinen Wohnungen bis zu Einfamilienhäusern –
und 1550 Bewohnerinnen und Bewohnern ist das ab 2007 gebaute Quartier eine der größten autofreien Siedlungen in Deutschland und die erste in Köln. 2013 wurde das Bauprojekt abgeschlossen. In der Siedlung sind private Kraftfahrzeuge – fahrend wie parkend – verboten, Anlieferungen müssen angemeldet werden. 120 Stellplätze – davon 40 für Besucher und Car-Sharing – gibt es nur am Rande der Siedlung in einer Sammelgarage.
Deutschlandweit existieren eine Handvoll weiterer solcher Projekte, deutlich mehr sind inzwischen in Planung. „Heute ist es ein Verkaufsargument, wenn Siedlungen autofrei oder autoarm sind”, sagt Kleinmann. Was früher abschreckend gewirkt habe, ziehe heute Investitionen an: „Dadurch nimmt die Entwicklung zunehmend an Fahrt auf.“
Übertragbar auf viele andere Regionen
So hatte auch Dorothea Schostok, Referatsleiterin Nachhaltige Entwicklung, Koordinierung Nachhaltigkeitsstrategie NRW, Umwelttrends im Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes NRW, in ihrer Laudatio anlässlich der Auszeichnung als Transformationsprojekt herausgehoben, dass die Idee „besonders wirksam ist, wenn sie auf viele andere Quartiere und Regionen übertragen wird“.
Aus den Erfahrungen von „Stellwerk60“ lasse sich lernen, glaubt Kleinmann. So sei es hilfreich gewesen, dass im Quartier verschiedene Wohnformen durchmischt wurden. Im Viertel kann man sowohl Eigentum erwerben als auch zur Miete wohnen, und neben frei finanzierten gibt es auch öffentlich geförderte Mietwohnungen: „Die Warteliste ist allerdings lang.” Auch bei der sozialen Zusammensetzung der Bewohnerschaft wird auf Vielfalt gesetzt. Hier wohnen Menschen ganz verschiedenen Alters, Singles und Familien.
Wichtig für den Erfolg sind auch die Car-Sharing-Stationen am Rand der Siedlung und die gute Anbindung an S-Bahn, Stadtbahn und Busse. In einer Mobilitätsstation am Siedlungseingang stehen rund um die Uhr Transportmittel zur Verfügung: Bollerwagen, Paketkarren, Fahrradanhänger, Tandems, Einräder. Und zum Einkaufen kann man zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren.
Erfolgsfaktoren und Stolpersteine
Als „Stolpersteine” bezeichnet der Verein die lange Zeit, die zwischen Idee und Umsetzung verstrich. Es war schwierig, die politische Mehrheit zu überzeugen, und viele Interessierte sprangen damals ab. Die große Liebe der Deutschen zum Auto, die auch bei Behörden oder den Bauträgern verbreitet sei, habe ihnen das Leben ebenfalls schwer gemacht. Auch manche Bewohnerinnen und Bewohner erwiesen sich als schwarze Schafe: Sie besaßen ein Auto, ohne dafür einen Stellplatz zu besitzen, was die Menschen in den angrenzenden Vierteln verärgerte, denen sie damit die Parkplätze wegnahmen.
Hans-Georg Kleinmann, der vor seinem Engagement für die autofreie Siedlung selbst mal für einen Autozulieferer-Konzern gearbeitet hat, engagiert sich inzwischen im Verkehrsclub Deutschland e. V. (VCD) für die Mobilitätswende. Die autofreie Siedlung in Köln gilt auch hier als Vorbild. In den nächsten Jahren, so hofft Kleinmann, werden etliche weitere Projekte fertiggestellt werden: „Jedes Projekt, das gelingt, hat wieder einen eigenen Multiplikatoreffekt.”