Radikale Höflichkeit statt Wut

Wie lässt sich wieder Lust auf Zukunft und Nachhaltigkeitspolitik machen? Das war das Thema auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Die Vorschläge: Radikale Höflichkeit, Infrastrukturausbau, Vermessen des Fortschritts.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ruft dazu auf, nicht zu verzagen, sondern mit einem „fröhlichen Pragmatismus“ an die Arbeit heranzugehen. Wer eine gute und nachhaltige Zukunft wolle, dem könne an einer »kollektiven Übellaunigkeit« nicht gelegen sein, sagt Scholz. Das war auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung, RNE, Anfang Oktober in Berlin. Teilnehmende auf dem Podium und im Publikum debattierten dort über „Nachhaltigkeit im Stresstest – Wie sichern wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt?“

Die Pandemie, der Angriffskrieg Russlands wenige Hundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, die Gewaltspirale im Nahen Osten, in den USA und China erwachsende neue Konkurrenzen – das alles seien „schwerwiegende Ereignisse, die wie Steine im Weg zu mehr Nachhaltigkeit“ lägen, erklärte Gunda Röstel, die Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden und stellvertretende Vorsitzende des Rates ist.

Auf der Suche nach Lösungen für die Probleme der Zeit vertieften sich in der Gesellschaft Gräben. Röstel: „Da gedeihen die politischen Ränder auf der rechten und leider auch auf der linken Seite.“ Rechte Parteien legten bei der Europawahl zu, die AfD errang in Sachsen, Thüringen, Brandenburg Wahlerfolge und die FPÖ in Österreich. Zugleich versucht das Bündnis Sahra Wagenknecht andere Parteien vor sich herzutreiben. „Die schiere Anzahl der Herausforderungen ist kraftraubend und ermüdend“, sagte Röstel, „aber der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität nehmen keine Rücksicht auf menschliche Befindlichkeiten.“

Angst um Jobs und Zukunft

Hitze, sturzflutartige Regenfälle infolge der Erderwärmung machen sich längst auch in Deutschland bemerkbar. Und von etwa 30.000 in Deutschland erfassten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind gut ein Drittel bestandsgefährdet. Hinschmeißen geht nicht. „Pessimismus und Fatalismus können keine Antwort sein“, erklärte der RNE-Vorsitzende Reiner Hoffman, „wir sind nach wie vor eine der reichsten Volkswirtschaften auf diesem Globus.“ Viel sei auch schon auf den Weg gebracht. Die Erneuerbaren Energien zum Beispiel deckten in den ersten drei Quartalen 56 Prozent des Stromverbrauchs.

Doch viele Menschen seien, so Hoffmann weiter, „verunsichert, haben Angst um ihre Arbeitsplätze und die Zukunft ihrer Kinder.“ Es sei „zentral“, so meinte er, dass die Menschen beteiligt würden, mitbestimmen und gestalten könnten. „Mit einer starken Zivilgesellschaft, auch mit starken Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden können wir die Transformation schaffen.“ Nur lässt sich über diese derzeit oft nur schwer reden.

„Bisher haben wir eher herausgefunden, was nicht funktioniert“, meinte Professor Kai Niebert. Der Nachhaltigkeitsforscher ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings und Mitglied im RNE. Nicht funktioniert habe, mit Moral die Welt retten zu wollen. Gäben sich Vegetarier als die besseren Menschen aus, führe das zu Abwehrreaktionen. Es helfe auch nicht, die Verantwortung dem Einzelnen aufzubürden – „Du fährst mit dem Rad zu Schule!“, „Du machst das Licht aus!“ – und Lösungen so zu individualisieren. Stattdessen müsse eine funktionierende Infrastruktur geschaffen werden. Und zu denken, Hauptsache es entsteht eine Solarfirma, egal mit welcher Art von Jobs, reiche auch nicht. Niebert: „Heute stehen Umweltverbände dafür ein, dass jede Arbeit gute Arbeit sein muss.“

Innenstädte bauen wie die Schweden

Als die Brundtland-Kommission 1987 erstmals Nachhaltigkeit definiert habe, sei ein Arbeitsauftrag entstanden, der bis heute Orientierung gebe: „Wir müssen zusehen, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können“, sagte Niebert. Die Menschen seien auch bereit, dafür Zumutungen zu akzeptieren, sie müssten aber gut erklärt werden. „Lassen Sie uns die Transformation nicht mehr mit der Klimakrise und dem Artensterben begründen, sondern mit den Chancen“, so Niebert. Gute Beispiele für die Chancen sieht er zum Beispiel in den Nachbarländern: „Lasst uns essen wie die Italiener, Landwirtschaft machen wie die Dänen, Fahrradwege bauen wie die Holländer und Innenstädte bauen wie die Schweden.“ Am Ende könne ein großes „Wir-Projekt“ stehen, wieder eine gemeinsame Lust auf Zukunft aufkommen. Was es dafür genau braucht?

Ärzte sagten, sie könnten erst operieren, wenn die Entzündung raus sei, meinte der CDU-Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus, der im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung (PBnE) sitzt. Die Entzündung? Für ihn sind das „Wut und Zorn hier in dem Land“. Beides sorge ihn, sagte er und forderte: „Zumindest müssen die Parteien der Mitte Wut und Zorn rausnehmen, sonst können wir nicht über Transformation reden.“

Streichen: Wort Transformation

Es gebe zu viel Alarmismus, zu viele Schuldzuweisungen. Viel werde darüber gesprochen, was fehlt, wenig über das bereits Erreichte. Brinkhaus forderte Kennzahlen, um dies messbar zu machen und will so raus, aus der wie er es nannte, „defizitorientierten Kommunikation, die auch noch moralisch angereichert ist.“ Grundsätzlich forderte er: „Wir müssen ruhiger werden.“

Paulina Fröhlich, Vizegeschäftsführerin der linksliberalen Denkfabrik Das Progressive Zentrum und dort auch verantwortlich für den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“, schlug das Prinzip „Radikale Höflichkeit“ vor. Das bedeute etwa zu fragen „Warum denkst Du so?“, „Warum fühlst Du so?“, „Hast Du dafür Beispiele?“ und zuzuhören. Wer das mache, könne dann auch einfordern, seine eigene Sichtweise darlegen zu können. Das Wort Transformation hält sie dabei „für völlig unbrauchbar“. Sie meinte: „Geben Sie mal in die Google-Bildersuche das Wort Transformation ein. Da kommt nichts Schönes.“ Während die Zumutungen notwendiger Veränderungen den meisten klar seien, werde das Positive zu wenig beschrieben. Wie das gehen könne, dafür brauche „es noch mehr Denkleistung“.

Brigitte Knopf, stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen der Bundesregierung, gab sich überzeugt, dass Klimapolitik den Wunsch vieler nach sozialer Sicherheit stärker in den Blick nehmen muss. Bereits Anfang des Jahres hat die Physikerin darum auch den Thinktank „Zukunft Klimasozial“ gegründet. Es reiche nicht, sagte sie, nur das Narrativ zu ändern. Dieses brauche auch eine materielle Grundlage, damit sich die Menschen für ein klimaneutrales, nachhaltigeres Leben entscheiden können. Ohne Radweg, ohne funktionierende Bahn würden Menschen weiter mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren.

Vier Säulen für gutes Leben

Knopf spricht von „vier tragenden Säulen einer sozial gerechten Transformation“. Dazu zählt sie den Ausbau der klimaschonenden öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge, die gezielte Förderung und Unterstützung der Transformation für untere und mittlere Einkommen, das Ordnungsrecht und die Rückerstattung der Einnahmen aus der CO2-Bepreisung, zunächst in Form eines Pro-Kopf-Klimageldes, später sozial gestaffelt.

Zu tun gibt es genug. Wie weiter? Sarah Ryglewski, Staatsministerin für nachhaltige Entwicklung beim Bundeskanzler, verantwortet die Neufassung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Bis Ende des Jahres, spätestens im Januar solle sie fertig werden, erklärte sie auf der Jahreskonferenz. Derzeit würden alle Stellungnahmen zum Entwurf gesichtet, es seien „weit mehr als 900 Eingaben“ eingegangen. Trotz Stress: Nachhaltigkeit ist in Arbeit.