Zurzeit kommen auf jeden Großstädter knappe 50 Quadratmeter öffentliche Grünfläche. Vor allem in sozial benachteiligten Vierteln, so eine aktuelle Bestandsaufnahme, fehlen Parks. Umweltministerin Hendricks will mehr Natur in die Stadt holen – und arbeitet an Maßnahmen. Dahinter steht die Frage: Wie wollen die Menschen in Zukunft leben?
Im Jahr 2030 wird ein Fünftel der Bevölkerung allein in den 14 größten deutschen Städten wohnen. In Metropolregionen wie Berlin, München, Hamburg, aber auch Stuttgart, Frankfurt oder Köln-Bonn-Düsseldorf werden die Einwohnerzahlen um mehr als zwei Millionen steigen. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) geht davon aus, dass in den nächsten Jahren bundesweit jedes Jahr 250.000 neue Wohnungen gebaut werden müssen.
So steht es im „Grünbuch Stadtgrün“. Herausgeber: Das Ressort von Barbara Hendricks. Die SPD-Politikerin ist die erste Bundesumweltministerin, die auch das Bauressort mit verantwortet. Vor ihrer Zeit war dies im Verkehrsministerium angesiedelt.
Nun verspricht sie, mehr Natur in die Häuserschluchten zu holen – trotz zu erwartender Interessenkonflikte. „Wo Verdichtung Prinzip und politische Verpflichtung ist, wird Freiraum zum knappen Gut“, heißt es in der 100-seitigen Studie. Hinter ihrer Initiative „Grün in der Stadt“, die vom Agrarministerium mit getragen wird, steckt die Frage: Wie wollen die Menschen in Zukunft leben?
Bauen und Ökologie neu denken – zusammen mit Fachleuten und Städtern will sie in den nächsten Monaten Ideen entwickeln, damit Städte ergrünen. Das Grünbuch ist dafür die erste Bestandsaufnahme und Diskussionsgrundlage.
91 Prozent Siedlung, 9 Prozent Grün
Demnach machen Bäume, Parks, Gärten, also städtische Grünflächen, gerade mal neun Prozent an der Siedlungsfläche aus. Und: Je größer die Städte sind, desto weniger grüne Fläche steht pro Einwohner zur Verfügung. In Großstädten kommen auf jeden Einwohner im Schnitt 46 Quadratmeter Grün, in kleinen Kleinstädten sind es fast doppelt so viele. Auch innerhalb der Orte gibt es laut der Analyse Unterschiede. Besonders gravierend seien die „Gründefizite“ in sozial benachteiligten Vierteln, so Hendricks.
Architekten, Forscher, Ingenieure dachten längst über einen Weg nach, um vom tristen Grau wegzukommen. In vielen zeitgenössischen Entwürfen einer Zukunftsstadt hänge das „Wesen des Grüns“ mit dem „Wesen des Urbanen“ zusammen, schreibt im Grünbuch Robert Kaltenbrunner. Er leitet im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung die Abteilung „Bau- und Wohnungswesen“.
Sein Aufsatz heißt: „Utopie und Pragmatismus – Was kennzeichnet die Grüne Stadt 2030?“. Die Stadt wird „symbolischer Ort einer modernen Natur“, meint der Experte. Dabei gehe es weniger um „Naturschutz“, vielmehr um Freiräume, die für die Stadtbewohner nutzbar werden.
Menschen fühlen sich mit Grün wohler. Das hängt auch damit zusammen, dass Grün wie eine Klimaanlage wirkt und die Temperatur regelt. So wird städtisches Grün in der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel als Instrument zur Minderung von Extremwitterungen genannt.
Zudem filtern Pflanzen Staub aus der Luft, dämpfen Lärm und verbessern die Artenvielfalt. Die Enquete-Kommission zum Schutz des Menschen und der Umwelt forderte schon im Jahr 1998 den „Erhalt von Grünzonen im Stadtraum für die Verbesserung von Kleinklima und Ästhetik im Wohnumfeld sowie für Lebensräume von Tieren und Pflanzen“.
Hochhaus wird Urwald
Grün spiele bei allen Entwürfen der idealen Stadt „stets eine entscheidende Rolle“, meint Kaltenbrunner. Eines seiner Beispiele: Ende letzten Jahres ist der Internationale Hochhauspreis an den Bosco Vertical in Mailand verliehen worden: Ein Wohnkomplex aus zwei Türmen, 78 und 122 Meter hoch, an denen 900 Bäume und 500 Sträucher wachsen. Das sei, schreibt der Experte, eine „Art vertikaler Wald“, der lediglich durch Fenster durchbrochen werde. Im Sommer sorgten die Blätter für Schatten, im Herbst, wenn die Blätter fielen, träfen die Sonnenstrahlen auf die Wände.
Andere Büros entwerfen ganz neue Stadt-Visionen. Der Baukonzern Shimizu aus Tokio will überbevölkerte Metropolen entlasten – mit der Unterwasserstadt „Olein Spiral“. Die mit Acrylglas ummantelte Kapsel, 500 Meter Durchmesser, soll gut 4000 Menschen, Hotels, Büros und Grünflächen Platz bieten. Verankert wird sie am Meeresgrund mit einer rund 15 Kilometer langen spiralförmigen Befestigung. Im Jahr 2030 soll alles fertig sein.
Hierzulande geht es aber eher darum, die bestehende Stadt ergrünen zu lassen. Etwa wie in der „essbaren Stadt Andernach“ in Rheinland-Pfalz. Dort lässt die Stadtverwaltung in öffentlichen Parks Obst und Gemüse anbauen. Jeder darf gärtnern und ernten. Nicht nur in Andernach kehrt die landwirtschaftliche Produktion in die Stadt zurück.
Wer zahlt?
„Mit à´Urban Gardeningà´, Gemeinschaftsgärten, bepflanzten Baumscheiben und Aktionstagen zur Parkpflege bringen sich die Anwohnerinnen und Anwohner aktiv in die Gestaltung und Pflege ihrer Umgebung ein“, meint Umweltministerin Hendricks.
Nur: Wer zahlt die grüne Infrastruktur? Der Bund biete über die Städtebauförderung Hilfe, erklärt Hendricks. Die Mittel, die nicht nur, aber auch für Grün eingesetzt werden können, wurden im vergangenen Jahr von 455 auf 700 Millionen Euro aufgestockt. Bis 2017 soll jedes Jahr noch einmal die gleiche Summe verfügbar sein. Im Frühjahr 2017 soll ein Weißbuch „Stadtgrün“ erscheinen, das dann anders als das Grünbuch einen konkreten Maßnahmenkatalog enthalten soll. Es wird auch um die Finanzierung gehen müssen.
Weiterführende Informationen
Das Grünbuch: Stadtgrün [pdf, 5,4 MB]
Initiative Grün in der Stadt
Das Wald-Hochhaus: Bosco Vertical in Mailand
Die essbare Stadt: Andernach
Unterwasserstadt: Olein Spiral
Forderung Enquete-Kommission 1998
Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel [pdf, 2,4 MB]