Deutschland könne seine selbst gesteckten Klimaziele erreichen, sagt Patrick Graichen, Chef des Think Tanks Agora Energiewende. Eine Voraussetzung sei aber, dass die billige Kohle nicht mehr das Gas in der Energieerzeugung verdrängt. Dafür müsse die Politik Sorge tragen. Graichen fordert eine „langfristig angelegte Strategie, bei der auch die Beschäftigten eine Perspektive bekommen.“
Deutschlands CO2-Ausstoß steigt, das Bundesumweltministerium arbeitet nun an einem Klimaaktionsprogramm. Ist das selbst gesteckte Ziel, die Emissionen bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu senken, denn noch zu erreichen?
Patrick Graichen: Ja. Im Kern geht es um drei Aufgaben. Erstens: Die Energiewende klappt nur, wenn sich die Regierung nach dem Strom nun auch das Heizen und die Warmwasserversorgung vornimmt und zum Beispiel die energetische Gebäudesanierung voranbringt. Bisher sind wir über die Förderprogramme der staatlichen KfW-Bankengruppe nicht hinausgekommen. Diese verbilligten Kredite reichen nicht. Es wird Zeit für eine steuerliche Förderung über die Einkommensteuer. Auch über die Grunderwerbsteuer könnte man die Gebäudesanierung fördern, etwa über eine Steuerrückerstattung bei erfolgreicher Sanierung innerhalb von drei Jahren nach dem Kauf eines Gebäudes.
Die zweite Aufgabe?
Sie heißt Verkehrswende – Carsharing erleichtern, Radfahren fördern, den öffentlichen Nahverkehr auch. Und die Schienengüterinfrastruktur verbessern. Aber vor allem muss die Regierung, und das ist die dritte Aufgabe, dafür sorgen, dass die billige Kohle nicht mehr das Gas in der Energieerzeugung verdrängt.
Sie sagen Kohle wird der neue gesellschaftliche Großkonflikt – warum?
Die Energiewende haben wir im großen Konsens beschlossen. Und für die Atomenergie und die Erneuerbaren Energien haben wir eine konsistente langfristig angelegte Politik. Wenn die Bevölkerung dann aber sieht, dass zum Beispiel in der Lausitz mit dem neuen Tagebau Welzow Süd die Nutzung der Kohle ausgeweitet werden soll, ergibt sich ein Widerspruch. Daraus kann großer Streit entstehen.
Der Ausstoß von Treibhausgasemissionen aus Kohlekraftwerken wird über den europäischen Emissionshandel geregelt. Was kann die deutsche Bundesregierung überhaupt ausrichten?
Dass der Emissionshandel zurzeit wirkungslos ist, liegt auch daran, dass es bisher kaum deutsches Engagement gab, ihn zu reformieren. Die Bundeskanzlerin hat in Brüssel oft genug Durchsetzungsstärke gezeigt, sie müsste es auch in diesem Fall tun. Darüber hinaus steuern wir aber auch auf die Diskussion zu, wie der Strommarkt in Zukunft aussehen soll”¦
”¦ und ob Kraftwerke vorgehalten werden müssen, um im Zuge der Energiewende die Spitzenlast-Stromnachfrage zu decken zu können.
Genau. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Kohle zu Gas sein wird.
Sie wollen doch ganz raus der Kohle – wie?
Ich fordere keinen kurzfristigen Kohleausstieg, sondern einen Kohlekonsens. Denn eine Steigerung der Stromversorgung aus Erneuerbaren Energien auf 55 bis 60 Prozent bis 2035, wie von der Regierung beschlossen, bedeutet zwangsläufig einen drastischen Rückgang der Kohleverstromung in den nächsten 20 Jahren. Auch die Klimaschutzziele bedeuten einen Strukturwandel. Dafür sollten sich – wie beim Atomkonsens – die Betreiber, die Regierung und in diesem Fall auch die gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen. Sie müssten eine gemeinsame, langfristig angelegte Strategie erarbeiten, bei der auch die Beschäftigten eine Perspektive bekommen. So überlassen wir es nicht dem anonymen Markt, wann in welcher Region der Strukturwandel stattfindet.
Lässt sich das mit Ländern wie Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen, in denen die Kohle noch eine große Rolle spielt, überhaupt machen?
Ja, denn Planbarkeit ist für den Strukturwandel immer besser als abrupte, durch Preisänderungen an den globalen Märkten entstehende Brüche.
Warum sollten die Betreiber der Kraftwerke mitmachen?
Sie stellen gerade fest, dass die neuen Steinkohlekraftwerke derzeit ihre Kapitalkosten nicht bedienen können.
Man würde die Betreiber rauskaufen?
Für einen Teil der Kohlekraftwerke würde man voraussichtlich Garantien abgeben, andere würden sukzessive abgeschaltet.
Was wird der Kohlekonsens kosten?
Das ist Spekulation. Wichtig ist, dass mit den Kapazitätszahlungen, die ohnehin geleistet werden müssen, zugleich der Strukturwandel befördert wird.
Die Strompreise würden sicher nochmal steigen. Die deutschen Unternehmen klagen aber schon heute, stärker belastet zu sein als ihre Konkurrenz im Ausland. Übertreiben sie nur?
Die Strompreise an der deutschen Börse sind so niedrig wie sonst nirgends in Europa, drei bis vier Cent die Kilowattstunde. Der energieintensiven Industrie, die vor allem den Strombörsenpreis zahlt, geht es nicht schlecht. Aber es könnte schon Wettbewerbsnachteile geben für die Unternehmen, die etwa keine Befreiung von der EEG-Umlage haben. Man muss sich das von Branche zu Branche ansehen.
Ihre Prognose: Wann steht der Kohlekonsens?
Spätestens, so hoffe ich, am Ende dieser Legislaturperiode.
Das Interview führte Hanna Gersmann
Weiterführende Informationen
Kohle verdrängt Gas – Analyse Agora-Energiewende
Forderung von Klaus Töpfer nach einem Kohlekonsens – Bericht aus Berlin vom 13.4.2014