Viele Menschen fühlen sich abgehängt, sie finden, dass es nicht gerecht zugeht. Allerdings heißt das nicht, dass sie alle dasselbe darunter verstehen. „Wenn einem Kind ein Herzenswunsch verwehrt wird, dann sagt es: Ungerecht!“, erklärt der Brandenburgische SPD-Umweltminister Jörg Vogelsänger. Das sei die „subjektive Sicht“, bei der der eigene Vorteil im Blick steht. Jedoch gehe es bei der Gerechtigkeit gar nicht um die „grenzenlose Befriedigung materieller Bedürfnisse“, sondern um das richtige Maß. Doch was heißt Gerechtigkeit dann genau?
Wer derzeit eine Mehrheit für den nötigen Wandel der Gesellschaft gewinnen will, müsse sich mit dieser Frage beschäftigen. Da sind sich die rund 120 Gäste einig, die RENN.mitte Mitte April zu seiner Jahrestagung nach Potsdam geladen hat und bei der Vogelsänger den Eingangsvortrag hält.
RENN.mitte ist eine der vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien in Deutschland, die den Erfahrungsaustausch derjenigen fördern wollen, die sich vor Ort einsetzen für eine zukunftsfähige Entwicklung, sich nicht abgeben wollen mit dem, was ist. Die Menschen stünden derzeit „am gefährlichsten Zeitpunkt ihrer Geschichte“. So habe das der britische Astrophysiker Stephen Hawking gesagt, betont der Moderator der Veranstaltung. Hawking, vor kurzem verstorben, hatte etwa den Klimawandel, den Rückgang der Artenvielfalt und Epidemien angeprangert und auch vor sozialer Ungleichheit gewarnt. Er erklärte unter anderem: „Die Ressourcen konzentrieren sich immer mehr in den Händen weniger, weshalb wir lernen müssen, weit mehr als bisher zu teilen.“ Was „weit mehr“ heißen soll, ist bislang allerdings offen.
Die Weltgemeinschaft hat in der Agenda 2030, in der sie 17 Ziele für die nachhaltige Entwicklung festgelegt hat, den Begriff „leave no one behind“ geprägt, niemand soll zurück gelassen werden. Das entspricht dem Kern der Gerechtigkeit: Sie soll immer einen Ausgleich schaffen zwischen den Menschen. Die deutsche Bundesregierung formuliert es in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie so: Leitplanken für politische Entscheidungen seien: „die planetaren Grenzen unserer Erde zusammen mit der Orientierung an einem Leben in Würde für alle“.
Daraus ergäben sich zwei entscheidende Fragen, erklärt Imme Scholz, Vize-Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklung in Bonn und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung: Wie viel will man sich heute leisten und künftigen Generationen nehmen? Und: Wie viel Konsum will man sich heute leisten und anderen Ländern etwa mit der Produktion zumuten? In der Gesellschaft sei das umstritten, die öffentliche Debatte nicht einfach. Wie redet man darüber?
„Vor dreißig Jahren konnten Sie mit einem Durchschnittseinkommen eine Familie gut ernähren, heute brauchen Sie zwei dafür.“ Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung, in dem sich gut 40 Verbände zusammen getan haben, legt in Potsdam los. Das Bruttosozialprodukt habe sich derweil verdoppelt, Leiharbeit und prekäre Arbeit zugenommen, Paketboten müssten zwei Jobs machen. Das Protestventil aber sei die AFD, nicht die progressive Gesellschaft.
„Wir müssen die Sprache normaler Menschen sprechen“, meint Maier. „Reden wir über Dörfer, wo Perspektiven verschwinden, nicht nur über bessere Lebensmittel für Städter.“ Wissenschaftler könnten das Transformation nennen, Menschen aber müssten verstehen: Es geht um die Lösung sozialer Probleme.
Und dabei könnten die Bürgerinnen und Bürger mitarbeiten. Eine der von den Teilnehmenden an diesem Tag ins Spiel gebrachten Möglichkeiten: Kommunen erarbeiten ihre eigenen Nachhaltigkeitsstrategien mit einem Schöffenmodell. Eine Gruppe von Leuten wird per Zufall ausgewählt und dafür freigestellt, an der Strategie mitzuarbeiten. Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert, um nachhaltige Entwicklung und gesellschaftlichen Frieden zusammen zu bringen.