Die Klasse 1a will die Welt retten. Auch die 3c. Und die 10b. Mittlerweile machen 80 Schulen beim FREI DAY mit. Andere bereiten ihn derzeit vor. Dabei gibt es keinen klassischen Unterricht: Kein Mathe, kein Deutsch, keinen abzuarbeitenden Lernstoff. Stattdessen geht es um Zukunftsfragen, die den Schülerinnen und Schülern auf dem Herzen liegen. Sie machen daraus ein Projekt, setzen eine Idee um.
„Das ist ein Update für die Schule“, meint Tobias Feitkenhauer, „Kinder werden zu Gestalter*innen der Gesellschaft.“ Feitkenhauer leitet das Netzwerk der Schulen, die den FREI DAY für sich entdeckt haben. Er hat einen guten Überblick – und ein beeindruckendes Beispiel für das, was möglich ist.
„Vor kurzem sah das noch anders aus“, erzählt er, „doch nun lassen sich viele Kinder an der Grundschule im niedersächsischen Dorf Bothmer nicht mehr mit dem Elterntaxi bringen.“ Vor dieser Grundschule war morgens sonst immer die Hölle los, weil Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fuhren. Doch einige Schülerinnen und Schüler, neun und zehn Jahre, fanden, das sei gefährlich für andere Kinder und ohnehin nicht klimafreundlich.
Stoppschild für Eltern
Also erdachten sie am FREI DAY eine „Zufußgehen-Woche“: Von Montag bis Freitag sammelten sich die Kinder im Dorf und gingen gemeinsam zur Schule, die am Rande des Ortes liegt. Das lief gut. Nur war in der Woche danach alles wieder beim Alten. Nun stellten die Kinder – sie sprachen sich dafür extra mit der Gemeinde ab – vor der Schule ein „Hier keine Durchfahrt für Eltern“-Schild auf. Das beachteten allerdings: wenige.
Die Neun- und Zehnjährigen gaben nicht auf, kontaktierten die Lokalpresse. Die schrieb, aber noch immer änderte sich kaum etwas. Also suchten sie weiter nach einem Weg. Sie setzen sich mit dem Bürgermeister zusammen. Der entschied: Die Zufahrt wird verengt. Seither kommen Autos schwerer durch. Es ist sicherer und ruhiger vor der Grundschule geworden.
Nicht aufgeben, sich wieder aufrappeln, mit Konflikten umgehen, weitermachen: „Beim FREI DAY geht es immer darum, ein Projekt umzusetzen, nicht um die Theorie. Daraus erwachsen neue Kompetenzen“, sagt Feitkenhauer. Das Wissen von Kindern und Jugendlichen sei das eine, das Handeln das andere. Die öko-soziale Transformation gelinge nur mit beidem. Das sieht der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) ähnlich. Mit den vier Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN) hat er FREI DAY als eins von vier Transformationsprojekten 2021 ausgezeichnet.
Ohne Zensuren
Das Lernen in Projekten gebe es schon länger, sagt Feitkenhauer. Was macht dann den FREI DAY aus, den es seit 2020 gibt? Feitkenhauer zählt die wichtigsten Punkte auf: Mindestens vier Stunden in der Woche gibt es für den FREI DAY Zeit. Das ist fest im Stundenplan verankert. Die Kinder und Jugendlichen suchen sich ein großes Zukunftsthema – orientiert an den 17 Zielen der Nachhaltigen Entwicklung – selbst aus und dann notwendige Informationen zusammen. Sie arbeiten in kleinen Teams, aus verschiedenen Klassen, auch aus verschiedenen Jahrgängen. Noten gibt es keine. Scheitern ist ausdrücklich erlaubt. Lehrende haben dabei eine begleitende Rolle.
Hinter der Idee vom FREI DAY steckt Margret Rasfeld. Sie ist bekannt für neue Lernformen, hat die Initiative Schule im Aufbruch mit aufgebaut. Da leitete sie noch die Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ), die zu den innovativsten in Deutschland gehört. Seit 2016 ist Rasfeld in Pension, engagiert sich aber immer noch weiter. Vor wenigen Monaten hat sie nun das erste Buch über den FREI DAY geschrieben. Ihr Anliegen: Kinder sollen regelmäßig Freiräume bekommen, Lernen neu erprobt werden. So wie in Bothmer, aber nicht nur dort.
Andernorts rufen Schülerinnen und Schüler Lernpatenschaften für Geflüchtete ins Leben, befassen sich mit alltäglichem Rassismus, betreuen eine Anlaufstelle für Betroffene in der eigenen Schule. Andere beschließen auf einer Konferenz, dass sie eine müllfreie Schule ohne Plastik werden wollen und einigen sich zum Beispiel Plastikverpackungen aus ihren Frühstücksboxen zu verbannen. Und wiederum andere überzeugen ihre Stadtverwaltung, alle Schulen auf Ökostrom umzustellen.
Zeit für Persönlichkeit
Aber passt das in den Lehrplan, wo kommen die Stunden her? Feitkenhauer kennt diese Fragen gut. In der Schule gehe es nicht darum, Kindern nur Wissen zu vermitteln, sagt er. In jedem Lehrplan stehe, dass es auch Zeit geben müsse für die Entwicklung fächerübergreifender Kompetenzen, Metakompetenzen genannt. Dazu zählten zum Beispiel Zusammenarbeit im Team, Konfliktfähigkeit, Bewusstsein für eigene Stärken und Werte. Im 45-Minuten-Takt des klassischen Unterrichts gebe es dafür aber nur selten Raum. „Mit dem FREI DAY geht nichts verloren. Im Gegenteil. Mit ihm werden die Ansprüche der Lehrpläne eher erfüllt “, sagt Feitkenhauer. Der FREI DAY ist eine Vorbereitung auf die Zukunft.
Man könnte meinen, es werde mit einem Schulfach Nachhaltigkeit einfacher. So etwas bringen andere immer mal wieder ins Spiel, ist für Feitkenhauer jedoch keine Alternative: „Das wäre dann wieder altes Muster, die Methode Instruktion.“ Zu einem Schulfach gehörten immer Arbeitsblätter, Tests, Zensuren. Die Bildung für nachhaltige Entwicklung sei aber anders, sie schule Kinder auch darin, Verantwortung für sich, für andere und die Welt zu übernehmen.
Bis 2025 sollen ein Drittel der insgesamt rund 40.000 allgemeinbildende Schulen mit ihren elf Millionen Schülerinnen und Schülern in Deutschland beim FREI DAY mitmachen. Das ist das Ziel von Feitkenhauer. Seine Vision: Im Jahr 2030 findet Schule im Gebäude und der gesamten Umgebung statt. Für ihn heißt das konkret: „Schülerinnen und Schüler engagieren sich in Altenheimen, beim Tierschutzbund, bringen sich in die politischen Gremien ihrer Gemeinden ein. Und Lehrende sind Lernbegleiter*innen, die die Kinder und Jugendlichen unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten.“ Wer mitmachen will, meldet sich bei FREI DAY.