In der politischen Diskussion in Deutschland gibt es jetzt ein Jahr, bis zu dem alle wichtigen Akteure einen Ausstieg aus der Kohleverstromung für möglich halten: 2038. Dieses Jahr nennt der Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, kurz Kohlekommission – und der ist nicht der erste und nicht der einzige Plan, der einen langfristigen ökologischen Strukturwandel des Landes vorsieht. Bereits seit dem Jahr 2002 sind in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) Ziele zur Transformation aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche beschrieben. Hubert Weiger, Vorsitzender des BUND, Mitglied der Kohlekommission und des Rates für Nachhaltige Entwicklung, sowie Günther Bachmann, Generalsekretär des RNE glauben, dass beide Projekte voneinander lernen können.
Die DNS beschreibt umfassend, wie Deutschland zukunftsfähiger werden kann. Es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern um alle Lebensbereiche, etwa Gesundheit, Bildung, Staatsverschuldung, Ernährung, Korruptionsbekämpfung. Anhand von 63 Indikatoren misst das Statistische Bundesamt die Entwicklung und veröffentlicht alle zwei Jahre einen Bericht, regelmäßig überprüft ein internationales Team in einem Peer Review die Strategie. In seiner jüngsten Aktualisierung hat das Bundeskabinett beispielsweise die Ziele formuliert, bis 2025 die privaten und öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent des BIP zu erhöhen. Außerdem soll bis 2030 auf 20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche ökologischer Landbau betrieben werden.
Der ökologische Landbau zeigt aber auch die Probleme der Nachhaltigkeitsstrategie: ihr Fortschritt wird zwar gemessen, wenn Ziele nicht erreicht werden, bleibt das aber ohne Konsequenzen. Ursprünglich sollten bereits 2020 20 Prozent der Ackerfläche öko sein – nun eben zehn Jahre später. Daraus ergibt sich der erste Punkt, an dem die DNS von der Kohlekommission lernen kann:
Ein starker Einstieg in Nachhaltigkeitsziele
„Die Kohlekommission hat einen starken Einstieg vereinbart“, sagt Günther Bachmann. Deshalb tragen auch BUND, Greenpeace und der Deutsche Naturschutzring den Beschluss mit – er leite den überfälligen Ausstieg aus der Kohle ein, reiche aber nicht für den Klimaschutz, schrieben sie in einer gemeinsamen Mitteilung. Bereits bis zum Jahr 2022 sollen Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 12,5 Gigawatt vom Netz. „Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie kennt bei keinem ihrer Ziele solche starken Einstiege – dort gibt es nur Ziele irgendwann in der Zukunft“, sagt Bachmann. Beispielsweise soll laut der 2016 überarbeiteten DNS die Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 halbiert werden. „Die ersten Jahre, nachdem die Bundesregierung das Ziel ausgegeben hat, wird wahrscheinlich nichts Effektives passieren, um es zu erreichen“, sagt Bachmann.
Mehr demokratische Experimente wagen
Als große Stärke der Kohlekommission beschreibt Hubert Weiger vor allem, dass Akteure mit oft konträren Positionen – etwa Umweltverbände und Energiewirtschaft – zusammenkommen. So habe man in geschlossenen Räumen Zeit, durch Vorträge, Diskussion und Erfahrungen Vertrauen aufzubauen. „Es geht am Ende nicht darum, einander zu überstimmen, sondern auf einer von allen akzeptierten Faktenbasis einen Konsens zu finden“, sagt Weiger. Bachmann nennt das ein „demokratisches Experiment“. Der RNE-Generalsekretär plädiert dafür, die Kohlekommission als Vorbild zu nehmen und überall dort ähnliche Formate auszuprobieren, wo Deutschland in Sachen Nachhaltigkeit nicht vom Fleck kommt. „In diesen Bereichen müssten sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und Lösungen erarbeiten. Umsetzen müsste das dann die Politik“, sagt Bachmann.
Die konkreten Themen sind große Baustellen: Die Belastung der Fließgewässer mit Phosphor und des Grundwassers mit Nitrat wird immer größer, was nur durch ein Umsteuern in der Landwirtschaft zu lösen ist. Beim Güter- und Personenverkehr steigt der Energieverbrauch, statt zu sinken, was eine umfassende Verkehrswende nötig macht. Im Gesundheitsbereich steigt die Fettleibigkeit von Erwachsenen, statt zu sinken – hier ginge es um größere Reformen im Lebensmittelbereich. Huber Weiger führt noch den Flächenverbrauch an – Deutschland betoniert zu viel Natur zu.
Nachhaltigkeit als Gemeinschaftsaufgabe definieren
Die Beispiele zeigen: Es geht hier um ein großes Umdenken bei Mobilität, Landwirtschaft, Gesundheit und Raumplanung. Hubert Weiger leitet daraus die Idee ab, nachhaltige Entwicklung als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zu definieren. Solche Gemeinschaftsaufgaben sind in Artikel 91 des Grundgesetzes definiert und beschränken sich derzeit auf die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Dort könnte auch das Thema Nachhaltigkeit verankert werden. Dann könnte es auch endlich bei der Landwirtschaft Bewegung geben. „Die industrielle Landwirtschaft hat keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr, die Wissenschaft für ein Umsteuern ist da“, sagt Weiger. Einzig, es fehle ein politischer Prozess, um den Wandel einzuleiten.
Die DNS braucht Finanzierung und Öffentlichkeit
Bei zwei weiteren Punkten kann die DNS laut Bachmann aus der Debatte um die Kohlekommission lernen: Das erste ist die öffentliche Aufmerksamkeit, die bei der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie minimal ist. Hier sind die Medien gefordert, ihrem Informationsauftrag nachzukommen, glaubt Bachmann. „Im Januar gab es im Bundestag eine öffentliche Debatte über die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie mit einer scharfen Attacke der AfD. Berichtet hat darüber kaum jemand“, sagt Bachmann. Der zweite Punkt ist das Thema Finanzierung: Bis zu 40 Milliarden Euro an Strukturhilfen sollen die vom Kohleausstieg betroffenen Regionen erhalten. Die DNS hat kein Budget. „Die Nachhaltigkeitsstrategie braucht ein Kapitel Finanzierung. Wir müssen uns die öffentlichen Haushalte anschauen und ermitteln, welche Bereiche der Nachhaltigkeit dienen und welche nicht“, sagt Bachmann.
Was die Kohlekommission von der DNS lernen kann
Noch steht nicht final fest, wann Deutschland aus der Kohle aussteigt. Möglich wäre das Jahr 2035, dazu ist eine „Öffnungsklausel“ im Papier der Kommission enthalten. Ob die „energiewirtschaftlichen, beschäftigungspolitischen und die betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen vorliegen“ soll im Jahr 2032 überprüft werden. Allerdings ist auch ein späterer Ausstieg denkbar, da 2026 und 2029 das Ausstiegsdatum nochmals von einer Expertengruppe geprüft werden soll. Klimaschutzziele, Strompreis, Versorgungssicherheit, Beschäftigung, die strukturpolitischen Maßnahmen in den Kohleregionen und die dortige Wertschöpfung sollen dann erneut bewertet werden.
Die Kriterien bei dieser Überprüfung sind völlig offen. „Bei der Nachhaltigkeitsstrategie setzten wir ein ethisches, normatives Ziel und erarbeiten dann, wie man durch Indikatoren prüfen kann, ob die Ziele erreicht werden“, sagt Bachmann. Eine solche Prüfung anhand von konkreten Indikatoren kennt der Kohleausstieg nicht – in einigen Jahren könnte so die Debatte darum, ob der Kohleausstieg später oder früher kommen soll, erneut aufflammen.