Wie ernst nimmt die deutsche Politik zukunftsorientiertes Wirtschaften, soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Umwelt? Das zeigt sich, sagt Marlehn Thieme, die Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, spätestens bei den Aussagen der Parteien für die Bundestagswahl 2017. Thiemes Forderung: „Nachhaltigkeit gehört in jedes Wahlprogramm“.
Es ist der Nachmittag am Tag der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung, die Wahlprogramme sind noch nicht geschrieben. Doch etwas tut sich schon jetzt. Die Regierung denkt um. Sie verleiht dem Thema Nachhaltigkeit mehr Gewicht. Bereits am Morgen hatte CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den zahlreichen Gästen politische Entscheidungen angemahnt, die „enkeltauglich, oder wenigstens mal kindertauglich“ sind.
Nun, bei der „Diskussionsrunde über_morgen – Drei Bundesminister, drei Reden, eine Debatte, eine Welt“ werben Bundesbildungs- und Forschungsministerin Johanna Wanka, CDU, Bundesumweltministerin Barbara Hendricks, SPD, und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, CSU, für Nachhaltigkeit – und für ihre Vorhaben.
„Kein Wohlfühlthema“
So kündigte Wanka für Frühjahr 2017 einen Nationalen Aktionsplan für Bildung für nachhaltige Entwicklung an. Es sei wichtig, meinte sie, die „Menschen mitzunehmen“ und „Wissen um Nachhaltigkeit im Alltagsleben zu verankern, in der Kita, in der Schule, in der beruflichen Bildung, etwa beim Handwerk“. Auch die im April ins Leben gerufenen „Kopernikus-Projekte für die Energiewende“ brächten die nachhaltige Entwicklung voran. In den nächsten zehn Jahren sollen Wissenschaft und Industrie unter anderem Stromnetze und Speichersysteme entwickeln für den Umbau des Energiesystems. Die Technologien könnten „Exportschlager“ werden. Aber nicht immer werde es kuschelig zugehen. Wanka: „Nachhaltigkeit ist kein Wohlfühlthema“ – aber unbedingt notwendig.
Es gehe um die „Überlebensfrage der Menschheit“, erklärte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Einige Herausforderungen, die er aufzählte: Die Weltbevölkerung wächst täglich um 250.000 Menschen. Jeden Tag ziehen bis zu drei Millionen Menschen in städtische Ballungszentren. 90 Prozent der Afrikaner leben noch immer ohne Strom. In China sind 170 Kohlekraftwerke im Bau. Müller forderte „globale ökologische Mindeststandards“ – und mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel.
Es dürfe nicht sein, dass die Produktion in andere Länder verlagert werde, wo Soziales und Ökologie wenig Beachtung fänden. Die Welthandelsorganisation müsse von einer reinen Freihandelsorganisation zu einer „Fairhandelsorganisation“ umgebaut werden. Internationale Rechtsexperten hätten dazu in seinem Auftrag ein noch nicht veröffentlichtes Gutachten erstellt. Müllers Aufruf: „Es muss Klick machen, bei jedem von uns“. Handeln fange zuhause an.
Nachhaltigkeit zum Bewertungsmaßstab der Politik machen
Wie wird gemessen, ob Deutschland tatsächlich nachhaltiger wird? Bundesumweltministerin Barbara Hendricks nannte Beispiele: Der Gehalt von Phosphor in Flüssen und der von Nitrat im Grundwasser sowie die Stickstoffbelastung in Küstengewässern sollen beobachtet werden. Die Feinstaubbelastung in Städten genauso. Zugleich betonte Hendricks: „Bei aller Ambition ist die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie kein Katalog der Höllenszenarien und Folterwerkzeuge.“ Sie solle „Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft geben“. Allerdings gebe es auch Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung, etwa bei der Agrar- und der Verkehrspolitik, die noch nicht nachhaltig seien.
Der Druck scheint nicht groß genug. Andreas Jung, CDU-Politiker und Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung (PBnE), meinte: „Wir sind noch nicht so weit, dass Nachhaltigkeit Maßstab für die Bewertung von Politik ist in der Öffentlichkeit.“ Seine Idee: Die Kanzlerin gibt im Bundestag Regierungserklärungen zur Nachhaltigkeit ab, die Abgeordneten machen die Nachhaltigkeit dann zu ihrem eigenen Maßstab – und drucken sie auch auf ihre Wahlplakate.