Am 22. November hat die EU-Kommission eine Mitteilung dazu vorgelegt, wie die Zukunft Europas nachhaltig werden soll. Doch wirklich überzeugt hat das Papier Enrico Giovannini nicht. Giovannini ist Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger italienischer Arbeits- und Sozialminister, Professor an der Universität Tor Vergata in Rom und Sprecher der 2016 gegründeten italienischen Allianz für nachhaltige Entwicklung.
„Die Beschlüsse im November haben uns gezeigt, dass die Kommission die Agenda 2030 der Vereinten Nationen, die SDGs, nicht ins Zentrum der europäischen Politik stellt“, sagt Giovannini. Er beschloss, zusammen mit einer Reihe von europäischen Partnerorganisationen die Gruppe „Europe Ambition 2030“ zu gründen. „Wir wollen, dass die europäischen Institutionen, auch das Parlament und der Rat, die Agenda 2030 zur Grundlage der europäischen Politik machen“, sagt er.
Am 10. März treffen sich in Brüssel Vertreter der Kommission, der Mitgliedsstaaten und zivilgesellschaftlicher Organisationen, um sich zu vernetzten und ein Programm für die informelle Gruppe Europe Ambition 2030 zu erarbeiten. Mit dabei ist beispielsweise das Europäische Netzwerk von Umwelt- und Nachhaltigkeitsräten (EEAC) oder das European Environmental Bureau, eine Dachorganisation europäischer Umweltschutzorganisationen. Am 23. März wird es ein großes Symposium der neuen Allianz im italienischen Parlament in Rom geben – mit einem offenen Brief an die Staats-und Regierungschefs der EU, die sich zwei Tage später in Rom treffen. Auch Marlehn Thieme, Vorsitzende des RNE, zählt zu den Unterzeichnerinnen.
Nachhaltige Entwicklung sei die Antwort auf die Krisen unserer Tage, heißt es in diesem Brief: „In einer Zeit multipler Krisen und tektonischer Veränderungen in Europa und der ganzen Welt, die den Frieden in Europa, Demokratie und Wohlstand gefährden, gibt es keine Alternative zur Entwicklung einer ambitionierten Vision der Zukunft der Europäischen Union“, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Von der Vision zum Konkreten
Giovannini nennt drei Ereignisse in den nächsten zwei Jahren, die von entscheidender Bedeutung sind, um Europa nachhaltig zu transformieren: Bis Juni 2017 antwortet der Rat der EU-Staaten auf den Vorschlag der Kommission zur Implementierung der SDGs vom November 2016 vorlegen. Giovannini steht dazu in Kontakt mit der maltesischen EU-Ratspräsidentschaft. „Unser Treffen im März soll den Rat dazu bringen, einen ambitionierteren Plan als die Kommission vorzulegen“, sagt Giovannini.
Das zweite ist, dass die EU 2020-Strategie bald ausläuft. Die war 2010 verabschiedet worden und sah unter anderem vor, die Zahl der Armen zu verringern, die Quote der Schulabbrecher zu senken und, nach der Formel 20-20-20, 20 Prozent weniger CO2-Ausstoß, 20 Prozent mehr Energieeffizienz und 20 Prozent erneuerbare Energien zu erreichen. Giovannini fordert eine EU 2030-Strategie, die komplett auf die Agenda 2030 der UN und deren globale Nachhaltigkeitsziele, die SDGs, ausgerichtet ist.
Das dritte Ereignis sind die EU-Parlamentswahlen 2019. Man wolle die Zivilgesellschaft mobilisieren, um Druck auf die Kandidaten auszuüben, damit diese die SDGs in den Fokus nehmen. „Das Parlament muss in der nächsten Legislaturperiode komplett auf die Umsetzung der SDGs ausgerichtet sein, sonst verfehlen wir die Ziele“, sagt Giovannini
Was zu tun ist
In dem offenen Brief fordert die Gruppe außerdem eine „governance revolution“ in Europa, also eine neue Form, wie Staat, Bürger und Wirtschaft das Gemeinwohl steuern. Dahinter steckt der Gedanke, dass die EU-Kommission alleine die SDGs nicht umsetzen kann. Gefragt sind alle Akteure, neue Netzwerke, neue Formen der Mitbestimmung und der Kooperation zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Frans Timmermans, Vizepräsident der europäischen Kommission und Beauftragter für die Implementierung der SDGs, drückte es auf einem Podium über die Umsetzung der Agenda 2030 kürzlich so aus: „Es ist kein technologisches Problem. Es ist noch nicht einmal ein finanzielles Problem. Es ist ein organisatorisches Problem.“ (Im verlinkten Video an Minute 9:38:55.)
Die Umsetzung sei eine gewaltige Aufgabe, sagt Michiel de Vries, der das Europäische Netzwerk der Nachhaltigkeitsräte, EEAC, koordiniert. Aus seiner Sicht sind vor allem vier Punkte wichtig.
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Der Aufbau eines Forums, in dem sich Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft europaweit vernetzen, um die SDGs umzusetzen und den Vorgang zu überwachen.
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Die Agenda 2030 zu implementieren werde auch helfen, die wirklichen Ursachen der großen politischen Probleme anzugehen, wie Migration, Klimawandel oder Ressourcenausbeutung. Die SDGs seien das richtige Instrument, um diese Probleme zu bekämpfen. Das müsse Politikern und der Öffentlichkeit klarer kommuniziert werden.
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Die EU solle nicht nur darüber informieren, wie die Agenda 2030 auf EU-Ebene implementiert wird, sagt de Vries. Er schließt sich vielmehr einer Forderung der EU-Umweltminister an. Diese haben auf ihrer jüngsten Tagung vorgeschlagen, dass die EU-Kommission auch analysieren solle, was fehlt, um die Ziele der Agenda 2030 zu erreichen.
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Die EU solle zudem die verschiedenen Methoden nutzen, mit denen die Mitgliedsstaaten die Entwicklung in verschiedenen Politikbereichen monitoren, um mit diesen bereits vorhandenen Instrumenten die Implementierung der Agenda 2030 zu überwachen. Man müsse das Rad nicht neu erfinden.
Vor allem aber brauche es Geduld, sagt de Vries. Die Probleme, die nachhaltige Entwicklung lösen soll, seien nicht plötzlich da. „Sie köcheln lange Zeit vor sich hin und haben schwerwiegende Konsequenzen, wenn sie nicht gelöst werden“, sagt er. „Eine Twitter-Kampagen ist längst nicht genug. Wir brauchen eine kritische Masse an Menschen, die der Politik langfristig klar macht: Das sind unsere Probleme, lösen wir sie.“