Ihr Projekt „Plastikbudget” will herausfinden, wie viel Kunststoffemissionen die Umwelt im Jahr verträgt. Wie groß ist denn überhaupt das Problem in Deutschland?
Jürgen Bertling: Wir schätzen, dass in Deutschland pro Kopf und Jahr 1,4 Kilo Plastik durch achtloses Wegwerfen in die Natur gelangt. Dazu kommen bis zu vier Kilo Mikroplastik. Das sind aber Hochrechnungen, keine exakten Messungen.
Wie viel Plastik verträgt denn die Natur?
Auch das wissen wir nicht exakt. Eine Aufgabe unseres Projektes ist es, das besser zu ermitteln. Dazu müssen wir die Abbauleistung der Natur kennen. Wenn man mehr einträgt, als abgebaut wird, dann sammelt sich immer mehr Plastik in der Umwelt an. Für eine grobe Schätzung sind wir bisher davon ausgegangen, dass die Hälfte der Kunststoffe in 1000 Jahren, die andere Hälfte in 100 Jahren abgebaut wird. Daraus ergibt sich eine Abbauleistung der Natur pro Kopf und Jahr von ca. 200 Gramm. Mehr dürfen wir dann auch nicht emittieren. Das wäre eine Reduktion um den Faktor 27 im Vergleich zu heute.
Wie baut die Natur überhaupt Plastik ab?
Das sind zunächst physikalische Prozesse wie Temperatureinwirkung oder Strahlung. Dazu kommen mechanische Einwirkungen wie Wellenbewegungen im Meer. Auf längeren Zeitskalen finden dann auch biologische Abbauprozesse statt. Wenn die Polymere klein genug sind, dann werden sie auch verstoffwechselt, also final abgebaut, wissenschaftlich spricht man von ‘vollständig mineralisiert’.
Es gibt also Kleinstlebewesen, die Plastik essen, wenn die Partikel klein genug sind?
Abbau findet durch Mikroorganismen, Pilze, aber auch Säugetiere oder Insekten, die den Kunststoff durch ihre Mundwerkzeuge zerkleinern, statt. Die häufig verwendeten Kunststoffe sind allerdings sehr reaktionsträge. Deshalb sind auch biologische Abbauprozesse, die letztlich auch auf chemischen Reaktionen beruhen, sehr langsam. Es gibt unterschiedliche Positionen dazu, in wie weit Mikroorganismen die Kunststoffe tatsächlich verstoffwechseln, auf jeden Fall kann dies aber sehr, sehr lang dauern. Es gibt einige wenige Untersuchungen, die auch an Polyethylen einen biologischen Abbau nachgewiesen haben. Wir wissen auch, dass manche Mikroorganismen Erdöl verstoffwechseln können, so dass auch der Abbau von Polyethylen und Polypropylen grundsätzlich möglich sein könnte, wenn er auch sehr viel längere Zeit in Anspruch nehmen wird.
Nur noch ein Siebenundzwanzigstel der heutigen Plastikemissionen – das klingt nach einem Paradigmenwechsel. Wie sind die Reaktionen in Politik und Wirtschaft, die Sie erleben?
Die erste Reaktion ist oft: Das ist doch nicht zu schaffen. Ich rechne dann vor, dass unser Ziel realistisch ist. Der erste Schritt wäre, das Plastik, das wir in die Umwelt emittieren, um den Faktor drei zu verringern. Etwa bei Autoreifen, die mit 1,5 Kilo pro Kopf und Jahr den größten Anteil der Plastikverschmutzung in der Umwelt erzeugen. Da sagen die Automobilhersteller schnell, das gehe nicht, weil ein relativ weicher Reifen, der hohen Abrieb aufweist, für eine gute Bremswirkung nötig ist. Schaut man in die technischen Daten verschiedener Reifen, sieht man, dass es Reifen mit der gleichen Bremsleistung gibt, die doppelt so lange halten. Man kann also schon heute die Emissionen mit der Technik, die da ist, halbieren. Es spricht nichts dagegen, dass durch weitere Materialinnovationen eine Drittelung möglich ist.
Da fehlt aber immer noch viel für Ihren Zielwert.
Man kann im zweiten Schritt Entwässerungssysteme, Kläranlagen und Straßenreinigung optimieren. Da ist Faktor drei ebenfalls realistisch. Der dritte Punkt wäre dann, dass sich die Kunststoffe dreimal schneller abbauen müssen als heute – durch chemische Modifikation oder neue Materialien. Drei mal drei mal drei macht 27, unser Ziel wäre erreicht. Ähnlich kann auch für andere Mikroplastikquellen argumentiert werden.
Gibt es in den Laboren bereits Reifen, die sich schneller abbauen?
Da hat sich meines Wissens nach noch niemand systematisch damit beschäftigt. Die Hersteller forschen schlicht nicht in diese Richtung. Es gibt ein EU-Reifenlabel, aber dies gibt keine Orientierung für Kundinnen und Kunden, ob ein Reifen aus schneller abbaubarem Material besteht. Was möglich ist, das zeigt die Kosmetikindustrie. Die hat ihren Einsatz von Mikrobeads, also mikroskopische Reibkörper aus Kunststoff, um Peelingeffekte zu erzeugen, um 95 Prozent gesenkt, seit es härtere Regulierungen in vielen Ländern gibt.
Offenbar gibt es in anderen Branchen zu geringe Anreize für weniger Kunststoffe.
Genau. Und ich halte nichts von freiwilligen Selbstverpflichtungen. Das sind Wettbewerbsverzerrungen, weil es nicht die gleichen Bedingungen für alle Akteure setzt. Es kommt hier allerdings vor allem auf die überstaatliche Governance an, da Kunststoffemissionen ein globales Problem darstellen. Gäbe es eine internationale Vereinbarung, dann könnte man sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wenn die eigene Industrie zu Minderungen verpflichtet und innovativ wird.
Was bringt denn ein Plastiktütenverbot?
Die Plastiktüte als das Böse schlechthin zu stilisieren, verschleiert den Blick auf die wirklichen Probleme. Wenn man Plastiktüten in einen Recyclingkreislauf bringt, etwa durch ein Pfandsystem, dann sind sie kein großes Problem. Das sind sie nur, wenn die Tüten in die Landschaft gelangen, selbst die aus Biokunststoffen bauen sich nur sehr schwer ab.
Wie hoch ist der Anteil von Plastiktüten am Kunststoffeintrag in die Umwelt?
Das können wir nicht genau sagen. Aber Reifenabrieb macht definitiv mehr aus, den sieht man aber nicht im Stadtpark. Oft denken Leute, in Südostasien wird im Gegensatz zu Europa oder Nordamerika viel mehr Plastik in die Natur geworfen. Dabei sieht man bei uns den größten Teil einfach nicht, weil er mikroskopisch klein ist. Der weltweit größte Teil des Mikroplastiks, das in die Meere gelangt, kommt aus den entwickelten Länder. Es handelt sich um den Abrieb und die Verwitterung von Produkten, und die Menge der verwendeten Produkte hängt vor allem mit dem Konsumniveau zusammen.
Ihr Projekt will eine Erzählung entwickeln, um das Plastikproblem gesellschaftlich anzugehen. Wie könnte ein solches Narrativ aussehen?
Ob es ein Narrativ gibt, hinter dem sich alle versammeln können, da bin ich nicht sicher. Aber was ich sehe ist: Wir reden viel über eine Kreislaufwirtschaft. Dabei ist Kunststoff von allen Werkstoffgruppen derzeit der böse Bube. Dabei müssten Kunststoffe in einer Kreislaufwirtschaft eine dominante Rolle spielen. Auch andere Stoffe reiben ab, korrodieren oder verwittern.
Und Plastik hat da eine bessere Bilanz?
Diese Materialleckagen müssen ausgeglichen werden, um eine Circular Economy zu ermöglichen und Kunststoff ist der Werkstoff, der am ehestens erneuerbar darstellbar ist. Mit Keramik oder Glas geht das weniger, mit Papier Holz und Kunststoff dagegen schon. Gleichzeitig ist auch die Abbaubarkeit von Kunststoffen in weiten Bereichen gestaltbar. Wir brauchen allerdings andere Kunststoffe als heute. Und wir müssen über unseren Umgang mit Kunststoff nachdenken. Wenn wir ihm nicht einen deutlich höheren Wert beimessen als wir das heute tun, wird der Kunststoff seinem Potenzial für eine Circular Economy nicht gerecht.
Wir brauchen weniger und anderen Kunststoff?
Der richtig gemacht und richtig eingesetzt wird. Wir brauchen Kunststoffe, die einfach recycelbar sind. Eine heute übliche Mehrschichtfolie, vielleicht noch mit aufgedampften Metallschichten, ist da der falsche Weg.
Wäre denn ein Ziel ähnlich wie ein CO2-Emissiongrenzwert sinnvoll, um den Übergang zu schaffen?
Es wäre schon gut, wenn man ein Reduktionsziel vorgeben würde, am besten global. Dieses Ziel müsste man dann in die einzelnen Branchen ausdifferenzieren. Sonst fühlt sich die Automobilbranche nicht angesprochen. Dort könnte man beispielsweise das EU-Reifenlabel um Verschleiß und Langlebigkeit erweitern, plus Vorgaben, dass die Reifen im Schnitt beispielsweise sieben Jahre halten müssen, bisher sind es im Schnitt vier. So ähnlich könnte man Branche für Branche vorgehen.
Und Verbote?
Es gibt auch einzelne Produkte, die man vielleicht sinnvoll regulieren muss. Etwa Radierschwämme, die werden komplett aufgerieben und in Mikroplastik umgewandelt. Auch Rasentrimmer sind so ein Beispiel: Die günstigen haben statt eines Messers Spulen aus Nylonfaden, die rotieren, um Unkraut zu entfernen. Die Fäden werden dabei komplett abgerieben. Das ist eine Mikroplastikerzeugungsmaschine. Welcher Art die Beschränkung sein sollte, erfordert einen Abgleich von Nutzen und Umweltwirkungen sowie einen fairen Vergleich mit den Produktalternativen.
Es gibt also viele Bausteine, um Faktor 27 zu erreichen?
Ja, wir brauchen aufeinander abgestimmte Maßnahmen: Regularien, Anreize, Verhaltensänderungen und Innovationen für Alternativen.