Sie waren seit 2004 Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung, seit 2012 waren Sie Vorsitzende. Derzeit herrscht durch die vielen Klimaproteste der Eindruck, es habe bei der ökologischen Transformation der Gesellschaft kaum Fortschritt gegeben. Welche Überschrift geben Sie Ihrer Zeit im Rat?
Marlehn Thieme: Ja Tempo und Strecke hätten größer sein können und müssen. Aber wir haben Vieles angeschoben und die Bundesregierung hat einen Instrumentenkasten für eine nachhaltige Entwicklung geschaffen. Dazu zählt die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und die regelmäßigen Peer Reviews durch internationale Expertinnen und Experten. Oder das jüngste Projekt des Rates, die Mitbegründung eines Globalen Forums nationaler Nachhaltigkeitsräte. Wir haben mit dem Rat Verfahren etabliert, Diskurse zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Regierung organisiert. Das zahlt sich heute aus, jeder kann jetzt in seinem Bereich Verantwortung übernehmen.
Deutschland reißt aber seine Klimaziele 2020, die junge Generation geht auf die Straße, weil sie findet, das gehe alles viel zu langsam. Ging es Ihnen denn auch zu langsam?
Transformation ist ein ganz dickes Brett, das zu bohren ist. Der, wie Harald Welzer sagt, Generationenaufstand, den wir mit Fridays for Future (FFF) gerade erleben war so nicht vorherzusehen. Viele Ältere wollten oder konnten ihr Lebensmodell nicht hinterfragen. Das jetzt in einen Ausgleich zu bringen wird nicht ohne heftige Diskussionen ablaufen. Die womöglich noch mehr polarisieren. Wir als Rat haben uns aber immer auf eine sachliche Ebene gestellt und gefragt, welche Governance es braucht, um die Herausforderungen zu managen. Wie positioniert sich die Bundesrepublik international, wie können wir Wirtschaft, Kultur, Städte und ländliche Regionen so involvieren, dass sich Nachhaltige Entwicklung von selbst trägt?
Wie geht das denn?
Alle sind gefragt. Institutionen, Bürgerinnen und Bürger, Kultur, Wirtschaft. Mit der Dringlichkeit, die FFF und dem Impuls, den die heißen Sommer gebracht haben, sehe ich viel mehr Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen. Wir haben mit dem Rat viele Vorarbeiten gemacht und auch schon viel Bewusstsein geschaffen. Aber ich hoffe, dass die Entwicklung jetzt endlich mehr Fahrt aufnimmt und mehr Veränderung möglich macht.
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der Parlamentarische Beirat für Nachhaltige Entwicklung, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, all das sind die Dinge, die vor bald 20 Jahren erdacht worden sind. Reicht das heute noch aus?
Es ist jetzt vor allem an der Politik, Nachhaltigkeit als Führungsaufgabe zu sehen und Rahmen zu setzen. Das muss die oberste Priorität sein. Und dann müssen wir mit mehr Menschen darüber reden, wie zum Beispiel Dialoge über die Agenda 2030 oder den RENN, den Regionalen Netzstellen, die vieles vor Ort und in den Regionen bewegen. Nachhaltigkeit jetzt auch politisch als das Ganze zu sehen und mit neuer Dringlichkeit anzugehen, das sehe ich als Aufgabe der Politik, gerade auch der Parteien.
Wie bewerten Sie denn das Klimapaket der Bundesregierung?
Die Richtung ist richtig. Aber der vereinbarte CO2-Preis ist viel zu niedrig. Wir brauchen eine klarere Perspektive für 2030. Die Belastung darf nicht zu groß werden, aber schon heute müssen alle wissen: CO2 ausstoßen wird in überschaubarer Zeit immer teurer. Damit Investitionen, die sich mindestens über 10 bis 15 Jahre hinziehen, anders geplant werden und sich dann auch noch lohnen. Es muss klar sein, dass wir eine andere Mobilität, andere Landwirtschaftspolitik und neue Wohnmodelle brauchen. Diese Signale hätte ich gerne deutlich stärker gesehen.
Eine der Kernaufgaben des Rates ist, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiter zu entwickeln und die Regierung anzuhalten, sie umzusetzen. Jetzt wird sie überarbeitet. Was muss sich ändern?
Ganz wichtig ist, dass man nicht hier einen Kohlekompromiss, dort einen Atomausstieg, und da ein Klimapaket und auch einen Digitalpakt schnürt. Wichtig ist, dass für die Menschen rote Fäden erkennbar werden, dass sie sehen: Die Politik hat eine Gesamtstrategie, mit der auch globale Nachhaltigkeitsziele erreicht werden. Sie wollen eine bessere Zukunft, aber nicht auf Kosten anderer, sie wissen, dass es ein einfaches „Weiter so“ nicht gibt und sind bereit, auch Abstriche in Kauf zu nehmen. Aber nur, wenn sie verlässlich wissen, wohin wir damit steuern.
Derzeit reden alle über Klimaschutz, meist mit einer dystopischen Zukunft. Die SDGs, also die globalen Nachhaltigkeitsziele, sind dagegen eine positive Vision für ein besseres Leben. Wie bekommt man das kommuniziert?
Ich glaube, dass der politische Diskurs über Details die Menschen momentan überfordert, weil sie keine Ziele und Wege dahin erkennen können. Dann wenden sie sich an Politiker, die ihnen scheinbar einfache und bewährte Lösungen versprechen. Wir müssen auch grundlegende Änderungen so attraktiv bündeln, dass die Menschen denken: Bei der Entwicklung bin auch ich, ist auch mein Land gut aufgestellt, hier wird die Zukunft gut sein. Dann sind die Leute auch bereit, sich zu verändern, auch Liebgewonnenes zu hinterfragen. Die Menschen sind weder satt noch stumpf, dass sie nicht bereit wären, sich für größere Ziele zurückzunehmen. Auch über das Flüchtlingsthema ist mit der Perspektive nachhaltiger Entwicklung anders zu diskutieren. Wie verändern wir Produktion und Handel so, dass auch Afrika Markt- und damit Entwicklungschancen erhält. Auch das ist Teil einer wichtigen Diskussion um eine bessere Zukunft.
Einer Ihrer Schwerpunkte war Bildung für Nachhaltige Entwicklung, oft BNE abgekürzt, die auch zu Weltoffenheit und Empathiefähigkeit beitragen soll…
… und die junge Leute auch befähigt, ihre Erkenntnisse in ihrem Leben eigenverantwortlich umzusetzen, egal ob im privaten oder beruflichen Bereich, und Nachhaltigkeit auch politisch zu denken. Aber die BNE-Aktivitäten sind immer noch zu projektorientiert und von dem Engagement der Lehrerinnen und Lehrer abhängig. Viele Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Ausbilder zeigen jungen Menschen, was ihr Lebensstil für die Ökologie und für andere Menschen auf der Welt bedeutet und welche Möglichkeiten sie in ihrem Tun haben, dieses zu verändern. Das ist eine große Leistung der Lehrerinnen und Lehrer.
In der Bildung ist die Debatte oft, man solle Nachhaltigkeit in die Lehrpläne integrieren. Bald startet ein neues Weltaktionsprogramm zu BNE. Schafft man dieses Mal die Integration?
Die Länder haben sich dafür sehr offen gezeigt und signalisiert, dass sie Nachhaltigkeit in die Lehrpläne integrieren. Für die Berufsschulen fordert das sogar die Wirtschaft. Mein Vertrauen ist, dass Nachhaltigkeit jetzt tatsächlich integraler Bestandteil aller Lehrpläne wird.
Ihr zweites großes Thema ist eine nachhaltige Finanzwirtschaft, gerade auch als ehemalige Managerin der Deutschen Bank.
Das Thema hat mich in meiner Zeit beim Rat am meisten gefordert. Die Entwicklung des Deutschen Nachhaltigkeitskodex ist aus einer Suchbewegung entstanden. Aus allgemeiner unternehmerischer Verantwortung wurden in Stakeholderdiskursen 20 Kriterien herausgefiltert, die das Herzstück des Deutschen Nachhaltigkeitskodex darstellen, den schon über 540 Unternehmen anwenden und ihre Nachhaltigkeitsleistungen nach einheitlichen Standards steuern und transparent machen. Das ist ein großer Erfolg des RNE.
Viele Unternehmen, Hochschulen, Banken und auch der Mittelstand haben den Kodex übernommen. Gleichzeitig gerieten Unternehmen, die den Kodex anwenden, trotzdem in große Skandale. Wie stark ist das Instrument?
Ein Kodex ist keine Versicherung gegen Skandale. Die Intention ist eine andere: Wie kann man standardisierte Berichte über Nachhaltigkeit in Unternehmen und anderen Organisationen schaffen, die auch klein- und mittelständische Unternehmen mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen anwenden können? So, dass es nicht nur Greenwashing ist, sondern Veränderungen auslöst. Wie kann ich etwa meine Reisepolitik ändern? Wie kann ich meinen Energie- und Ressourceneinsatz verringern? Wo brauche ich Innovations- und Fortbildungsangebote für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wo muss ich mehr Diversität haben? Wo hilft Inklusion? Wie achte ich auf Menschenrechte in Lieferketten? Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex trägt dazu bei, dass Unternehmen über ihr Geschäftsmodell und seine Risiken nachdenken, umsteuern, dann auch darüber berichten und gesellschaftlichen Diskurs ermöglichen
Werden Unternehmen, die den Kodex anwenden, von der Finanzwelt durch besserem Zugang zu Kapital bereits belohnt?
Im Moment ist der Belohnungsfaktor sehr gering, wegen der Niedrigzinsphase können sich Unternehmen ohnehin zu sehr günstigen Konditionen Geld leihen. Derzeit geht es eher um Risikominimierung und die Vorbereitung für eine veränderte Zukunft mit großen Herausforderungen für Rohstoffe, Energie und Umweltnutzung. Die Unternehmen bauen einen Berichts- und Steuerungsmechanismus auf, den sie scharf und schärfer stellen können. Dieses Setup zu haben ist ein ganz wertvoller Managementapparat, der sich auch weiter entwickeln wird. Und mit der CO2-Bepreisung kommt Druck auf die Frage der CO2-Emissionskosten. Aber auch Fragen von Recycling, Abfallmanagement, Fachkräfte gerät mit dem DNK schon früh auf den Radar von Unternehmen.
Der RNE agiert viel im Hintergrund. Wie viel Einfluss hatten Sie auf die Politik?
Wenn der Rat jedes Jahr über 1.000 Leute auf einer Jahreskonferenz mit ernsten Themen zusammenbringt, markiert dies Einfluss. Die Tatsache, dass jedes Jahr die Bundeskanzlerin (oder davor Bundeskanzler Schröder) und zunehmend Bundesminister und -ministerinnen gekommen sind, markiert die eine Seite unseres Einflusses. Die andere Seite wird durch die hochrangigen Gespräche mit Politikern, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur deutlich, zum Beispiel haben wir ganze Branchen an einen Tisch mit der Zivilgesellschaft gebracht oder mehr als 40 Oberbürgermeister, darüber, wie Nachhaltige Entwicklung in ihren Kontexten umgesetzt werden kann. Wir haben als Rat eine Dienstleistung erbracht. Wenn die Bundesregierung ein Beratergremium wie den RNE schafft, dann soll nicht der Berater im Scheinwerferlicht stehen. Bestätigt hat mich in meiner Arbeit oft, dass zunehmend mehr Bundesministerien den RNE angefragt haben.
Sie haben die komplette Kanzlerschaft von Angela Merkel über im Rat versucht, sie zu mehr Nachhaltigkeit zu treiben. Wie schätzen Sie die Rolle der Kanzlerin ein? Hätte sie gern mehr gemacht?
Persönlich nehme ich ihr das ab. Aber sie muss Mehrheiten finden, und die Flüchtlingsthematik hat sie sicherlich in der letzten Legislatur sehr beansprucht. Sie war eine Umweltministerin, die erkannt hat, um was es ging. Sie stand schon hinter dem Rat und hat das in ihren Vorträgen auch oftmals öffentlich hervorgehoben, was ich bemerkenswert finde, weil wir ihre Regierungen und Ministerien als Rat häufig, aber ich glaube sehr konstruktiv kritisiert haben.
Sie sind jetzt Präsidentin der Welthungerhilfe. Sie wechseln also von der Bekämpfung der Ursachen des Hungers zur direkten Bekämpfung des Hungers.
Genau das reizt mich daran.
Was nehmen Sie denn aus Ihrer Zeit als Vorsitzende des Rates mit?
Kein Hunger ist das zweite der 17 SDG. In den 15 Jahren meiner Ratstätigkeit habe ich einen integrierten Ansatz zur Bekämpfung von Hunger kennengelernt. Hunger hat zumeist mehrere Ursachen die anzugehen sind. Wir wissen, dass der Klimawandel zu mehr Hunger führt, Dürren, Stürme und Überflutungen sind Symptome dafür, aber auch hier müssen wir fragen, was an unserer Wirtschaftsweise oder an der Handelspolitik der EU zu ändern ist, damit regionale Märkte nicht zerstört werden oder Konflikte um Rohstoffe verhindert werden, unter denen die Bevölkerung dann leidet. Dann importieren wir Tierfutter, das auf Feldern angebaut worden ist, die den Menschen z.B. in Südamerika jetzt nicht mehr für die Produktion von Lebensmitteln zur Verfügung steht. Umwelt- und Menschenrechtsinteressen in Politik und Wirtschaft stärker zu verankern, ist die Schnittmenge dieser Aufgabe.
Auseinandersetzung mit Hunger heißt auch, sich mit viel Elend zu beschäftigen. Was macht das mit einem persönlich?
Ja es gibt viel Elend auf dieser Welt, aber wir müssen auch unseren Blick auf Hunger differenzieren: Es gibt Erfolge in der Hungerbekämpfung, aber immer noch über 820 Mio. Menschen auf der Welt, die nicht ausreichend Kalorien zur Verfügung haben. Darüber hinaus tritt Hunger heute oftmals Fehlernährung auf, zu wenig Vitamine, Mineralstoffe oder kein sauberes Trinkwasser. Das führt zu ernsten physischen oder geistigen Schäden, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt genug Lebensmittel für alle Menschen, auch bei steigenden Weltbevölkerung, aber es gibt noch viel zu tun, damit keiner Hunger leidet.