Frage: Herr Lewe, hat jeder das Recht mitten in der Stadt zu leben?
Markus Lewe: Das Recht in der Stadt zu leben unterliegt keinen Beschränkungen. Die Städte sind darauf angewiesen, dass Menschen aller Einkommensschichten in den Städten leben können. Dabei geht es aber nicht um einen Rechtsanspruch, das ist meines Erachtens auch nicht notwendig. Viel spannender ist die Frage: Müssen sich alle, die in der Stadt leben wollen, Wohnraum in der Stadt leisten können?
Und müssen sie?
Ich meine ja. Dies bedeutet nicht, dass wir nur noch sozialgebundene Wohnungen bauen. Aber in diesem Segment besteht viel Nachholbedarf. In den vergangenen Jahren sind zu wenig Wohnungen gebaut wurden, die für alle bezahlbar sind.
Städte wie München, Münster und Frankfurt haben bereits Pläne für die sozialgerechte Bodennutzung entwickelt. Muss die Bundesregierung überhaupt noch eingreifen?
Ja, unbedingt. Denn an vielen Stellen reichen die Möglichkeiten der Städte nicht aus, um aktiv an den Wohnungsmärkten zu agieren – im Sinne einer nachhaltigen, vorausschauenden und stärker am Gemeinwohl orientierten Boden- und Wohnungspolitik. Gerade im Bereich des Baugenehmigungs- und Planungsrechts – auch im Zusammenspiel mit dem Umweltrecht – gibt es Verbesserungsbedarf. Der Deutsche Städtetag hat deshalb bereits 2017 ein Positionspapier zur Neuausrichtung der Wohnungs- und Baulandpolitik veröffentlicht.
Vielfach werden die energetischen Auflagen als Gründe für steigende Baukosten angeführt. Muss man sich zwischen Klimaschutz und bezahlbarem Wohnraum entscheiden?
Wir müssen beides erreichen: Klimaschutz und bezahlbaren Wohnraum. Problematisch ist auf Ebene der Gesetzgeber bislang, dass jeder Fachbereich für sich Standards festlegt. Wir benötigen deshalb eine ressortübergreifende Abstimmung über die tatsächlichen Ziele und Wege. Unabhängig davon gibt es schon heute viele sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen.
Zum Beispiel?
Energetische Verbesserungen der Gebäude, die dem Klimaschutz nutzen, sorgen gleichzeitig über die Lebenszeit des Gebäudes hinweg für niedrigere Energiekosten. Allerdings sind die Mehrkosten beim Bauen nicht zu vernachlässigen und amortisieren sich häufig nicht so schnell wie erwartet. In Münster setzen wir für Neubauten auf städtischen Grundstücken seit mehr als 20 Jahren auf erhöhte Wärmedämmstandards. Im vergangenen Jahr haben wir in Abstimmung mit dem Bund Deutscher Architekten (BDA) das sogenannte kfW55-Energieeffizienzhaus als neuen Standard für Neubauten in der Stadt festgelegt.
In Wien liegt der Anteil öffentlich gebundener Wohnungen bei über 50 Prozent – ein Vorbild, damit hierzulande Wohnen bezahlbar bleibt?
Die Stadt Wien wird gern genannt, wenn es um die aktive Steuerung der Wohnungsmärkte durch die Städte geht. Wien betreibt seit fast 100 Jahren eine soziale Wohnraum- und eine vorausschauende Bodenpolitik und setzt 5 Prozent seines Budgets für den Wohnungsbau ein. Dahinter steckt also eine ausgeprägte politische Grundhaltung über einen sehr langen Zeitraum. Deshalb ist das Vorgehen dort in dieser Form nicht ohne Weiteres auf deutsche Städte übertragbar. Dennoch lohnt sich immer wieder der Blick dorthin, um Lehren für deutsche Städte aber auch für Bund und Länder zu ziehen.
Die Bundesregierung will dieses Jahr das erste Klimaschutzgesetz verabschieden – was erwarten Sie für den Bereich Wohnen?
Aus wohnungspolitischer Sicht ist vor allem die Einführung des geplanten Gebäudeenergiegesetzes von Bedeutung. Mit diesem sollen die Energieeinsparverordnung (EnEV), das Energiegesetz (EnEG) und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG) zusammengelegt werden. Das Gesetz wird allerdings, wie die Koalition verabredet hat, den energetischen Mindeststandard im Neubau nicht verändern. Daher müssen Bund und Länder mit Förderprogrammen bessere Anreize für die energetische Gebäudesanierung schaffen. Dies fordern wir schon lange, ebenso wie einen sachgerechten Quartiersansatz.
Was ist zu tun in Zeiten, in denen nicht nur Regionen, sondern auch schon einzelne Viertel in Städten auseinanderdriften?
Das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ist für den Deutschen Städtetag zentral. Deshalb arbeiten wir in der entsprechenden Kommission der Bundesregierung mit. Gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen wir nur, wenn keine Region in Deutschland abgehängt wird. Damit das gelingen kann, brauchen wir Strukturhilfen in all jenen Regionen, wo es erhebliche wirtschaftliche und infrastrukturelle Schwierigkeiten gibt, egal ob kleinräumig oder großräumig, in Städten oder dem ländlichen Raum.
Es ist zwölf Jahre her, dass sich die 27 in Europa für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister auf die „Leipzig-Charta“ zur nachhaltigen europäischen Stadt verständigt haben. Inwiefern spielt diese heute noch eine Rolle?
Die Leipzig-Charta ist nach wie vor das Leitbild für die urbane, dichte und nachhaltige Stadt der kurzen Wege. Das zuständige Bundesinnenministerium hat im vergangenen Jahr einen internationalen Dialogprozess gestartet, um die nächste deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 vorzubereiten und die Leipzig-Charta weiterzuentwickeln. Daran wirken wir als Kommunen genauso mit wie an der Umsetzung vor Ort. Denn wir brauchen ein mit Leben erfülltes Leitbild.
Welche Rolle spielt der Wohnungsmarkt für eine nachhaltige Mobilität?
Eine ressortübergreifende Wohnungs- und Bodenpolitik nimmt auch die Verkehrsströme und Mobilitätsfragen stärker in den Blick, als das in der Vergangenheit vielerorts geschehen ist. Außerdem können Wohnungsgesellschaften einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Mobilität in den Städten leisten.
Wie genau?
Viele engagieren sich beispielsweise durch „Sharing-Angebote“, „ÖPNV-Abonnements“ oder „Fahrradstellplätze“ für ihre Mieter. Auch das Thema E-Mobilität wird zunehmend bei der Planung der Wohnungsbauvorhaben mit einbezogen. Die Städte begrüßen diese Aktivitäten ausdrücklich als einen Beitrag zur Verkehrswende. Der Deutsche Städtetag wirbt in seinem Positionspapier „Nachhaltige Mobilität für alle – Agenda für eine Verkehrswende aus kommunaler Sicht“ dafür, diese Aktivitäten zum Bestandteil einer aktiven Neubau- und Bestandspolitik zu machen.