Herr Kühr, Sie waren Teil eines Projekts, das sich in Lagos die Situation von Menschen angeschaut hat, die unseren Elektroschrott zerlegen. Was richten wir dort an?
Rüdiger Kühr: Wir haben einen Mitarbeiter aus Nigeria zwei Jahre damit beauftragt, unter Kooperation mit den Behörden zu untersuchen, was passiert, wenn Elektroschrott, etwa aus dem Hamburger Hafen, angelandet wird. Er sollte belastbare Zahlen sammeln, wie viel Schrott dort überhaupt ankommt. Wir haben so herausgefunden, dass 5 bis 10 Prozent des deutschen Elektroschrotts exportiert wird. Oft, weil Gebrauchtwagen, LKWs oder Busse mit Elektroschrott vollgestopft wurden, bevor man sie ausgeführt hat. Das ist mittlerweile nicht mehr so einfach.
Das war vor circa 10 Jahren. Damals gab es Bilder von Menschen, die mit blanken Händen im Müll wühlten und Schrott verbrannten, um an Rohstoffe zu kommen. Der Rauch hat ganze Stadtteile eingenebelt. Hat sich die Situation gebessert?
Die Bilder, auf die sie ansprechen, kommen aus einer Lagune in Ghana. Nein, das hat sich nicht gebessert. Das liegt daran, dass in Afrika natürlich auch Handys und Flachbildschirme und andere Elektrogeräte genutzt werden, eine Infrastruktur für probates Recycling gibt es aber kaum. Sind die Geräte nicht mehr funktionsfähig, werden sie oft von Jugendlichen auf primitive Art und Weise zerlegt. Sie verbrennen etwa die Kunststoffummantelungen von Kabeln, um an das Kupfer zu kommen. Da mangelt es an Initiativen, um das einzudämmen. Viele Akteure haben sich lange Zeit gewehrt, den Schrottsammlern konkrete Hilfe anzubieten, weil man befürchtete, dass dann die Praktiken und das informelle Handeln mit dem Müll verstärkt würden. Mittlerweile weiß man, dass es keinen anderen Weg gibt, als den Menschen Schraubenzieher, Schutzbrillen und Handschuhe zu geben und ihnen zu erklären, wie sie am sichersten und besten die Geräte auseinandernehmen, aber wie fatal es auch ist, etwa die Kabel zu verbrennen, weil die Dämpfe extrem gesundheitsschädlich sind.
Wie weit sind die Industrieländer beim Aufbau einer zirkulären Wirtschaft für Elektroschrott? Lässt sich die Situation mit den erneuerbaren Energien in den 90er Jahren vergleichen, als es erste Firmen gab, aber noch keine große Industrialisierung?
Wir sind beim Recycling heute deutlich weiter. Das Problem ist, dass bei uns viele Konsumentinnen und Konsumenten ihre alten Geräte nicht zum Recyclinghof bringen, weil die meistens in der Peripherie von Städten liegen. Niemand fährt 10 Kilometer, um seinen PC oder sein Handy zu entsorgen, was verständlich ist. Das führt dazu, dass in Deutschland circa 45 Prozent des Elektroschrotts als nicht recycelt dokumentiert werden, weltweit sind es sogar 83 Prozent. Ein Teil dessen landet auch in unserem Hausmüll, verbleibt in unseren Kellern oder auf unseren Dachböden, wird illegal exportiert oder unrechtmäßig mit Metallen eingesammelt. Der Casus knacksus ist die Sammlung und die Rückgabe. Und da verharren wir tatsächlich in den Neunzigerjahren. Verpackungsmüll, Papiermüll, Biomasse, alles wird vor der Haustüre abgeholt. Warum muss ich ausgerechnet den wertvollen Elektroschrott selbst durch die Gegend fahren?
Altgeräte stecken doch angeblich voller Kostbarkeiten, warum sammeln die Entsorgungsunternehmen sie nicht einfach ein?
Die Verantwortung liegt bei den Herstellern. Die beauftragen Systeme mit der Sammlung, die miteinander in einem großen Kostenwettbewerb stehen. Und die Kosten für eine Sammlung an der Tür sind bisher einfach zu hoch. Es stecken wertvolle Metalle in Mobiltelefonen, aber pro Gerät ist das nur sehr wenig. Aus 8.000 Handys, was circa einer Tonne Gewicht entspricht, kann man Wertstoffe von circa 5.000 Euro an Wert rausholen. Es müssen also große Massen umgesetzt werden. Nur dann ist es für die Recycler lukrativ. Deshalb sollte es für die Hersteller der Geräte attraktiver sein, diese Ressourcen wieder zu nutzen.
Und wie soll das gehen?
Eine Lösung wäre, die Geräte überhaupt nicht mehr zum Kauf anzubieten, sondern nur deren Funktionen oder Dienstleistungen. Wir müssen das Mobiltelefon, mit dem wir arbeiten, nicht besitzen. Wenn die Hersteller nur ihre Nutzung verkaufen, dann müssen sie ihre Geräte wieder zurückzunehmen. Sie werden sie dann geschickter designen, um die enthaltenen Rohstoffe erneut zu nutzen. So können Konsumentinnen und Konsumenten die neuste technologische Innovation genießen, ohne enorm viel Müll zu produzieren.
Fehlt es in der Industrie auch an Technologien und Kapazitäten, um all die alten Geräte zu recyceln und die gewonnenen Rohstoffe wieder zu verwenden?
Die Infrastruktur für ein komplettes Elektroschrottrecycling ist in Deutschland gegeben. Das Problem ist die Klassifizierung. Was ist überhaupt Schrott, was nicht: Das Einfallstor für die Exporte nach Afrika sind Geräte, die noch funktionieren. Nur dann darf man sie ausführen.
Aber das ist im Sinne der Nachhaltigkeit doch wünschenswert, Geräte länger zu verwenden.
Das stimmt, die größte Umweltlast bei vielen Elektrogeräten entsteht bei der Produktion. Ein längerer Lebenszyklus bedeutet einen geringeren ökologischen Rucksack. Exporte nach Afrika sind deshalb eigentlich gut. Aber das Problem ist, dass viele der ausgeführten Bildschirme oder Handys tatsächlich Schrott sind. Entweder, weil sie kaputt sind oder so veraltet, dass sie niemand mehr nutzen kann und will. Nur rund 30 bis 40 Prozent der Geräte, die in Afrika ankommen, können überhaupt weiterverwendet werden.
Also doch ein verkappter Müllexport?
Richtig. Niemand kann hinreichend kontrollieren, ob in einem Container mit alten Flachbildschirmen, die nach Afrika gehen, wirklich auch alle funktionieren. So viel Personal kann der Zoll gar nicht einstellen. Das Problem dieses unerlaubten Müllexports wird seit Jahren politisch nicht gelöst. Hinzu kommt, dass man funktionstüchtige Geräte, die in Afrika ankommen, dort auch irgendwann recyceln muss. Aber die Infrastruktur für alle notwendigen Schritte eines Recyclings entsprechend dem Stand der Technik fehlt.
Kann man das durch Technologieexport lösen?
Es wird versucht. Aber auch hier braucht es bisher Massen an Müll, die in großen industriellen Prozessen aufbereitet werden. Sonst lohnt sich das nicht. Da wären also Milliardeninvestitionen nötig. Das macht es für die großen Recycler viel zu riskant, in Afrika eine eigene Schmelze aufzubauen. Es gibt aber gute Beispiele an Kooperationen, bei denen vorsortierter Elektroschrott wieder nach Europa, Japan oder Nordamerika exportiert wird.
Wir haben also in der EU die industriellen Kreisläufe für ein umfassendes Recycling, es ist eher ein politisch-administratives Problem, die Stoffkreisläufe in den Griff zu bekommen?
Das ist die eine Facette, das andere ist ein Informationsproblem. Die meisten Menschen wissen nicht, wo sie ihre Geräte loswerden können – und lagern sie oder werfen sie sogar in den Hausmüll.
CO2-Neutralität lässt sich nur durch Rohstoff-Neutralität erreichen. Kann man das Müll- und das Klimaproblem zusammendenken und gemeinsam lösen?
Wir brauchen echte Kreislaufsysteme. Der CO2-Preis hilft dabei, er spielt aber bei der Herstellung von elektrischen und elektronischen Gütern kaum eine Rolle. Die Luftfahrtindustrie schwenkt auf Klimaneutralität ein, auch die Automobilindustrie. Aber in der Elektroindustrie wird das bisher kaum aufgegriffen. Es gibt kein Elektrogerät, das mit 100 Prozent Wiederverwertbarkeit beworben wird. Und wo bleiben die Elektrogeräte, die man mir damit anpreist, dass man sie leicht reparieren kann?
Könnte Recycling ein Geschäftsmodell für Länder des globalen Südens werden?
Mit Einschränkung ja. Wir sollten unseren Schrott nicht gezielt nach Afrika verbringen, damit die Geräte dort auseinandergeschraubt werden, und dann fahren wir die Komponenten wieder nach Europa zurück und schmelzen sie hier ein. Nur der lokal generierte Elektroschrott sollte in Afrika recycelt werden. Am besten ist es, wenn Rohstoffe dort wiederverwendet werden, wo der Schrott anfällt.